Süddeutsche Zeitung

Corona-Impfungen:Wenn sich die Systemfrage stellt

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Bei den Impfungen liegt Deutschland weit hinter Israel, den USA und Großbritannien. Das liegt nicht nur daran, dass man hierzulande später angefangen hat.

Von Berit Uhlmann

Ungefähr 2,1 Millionen Spritzen mit den begehrten Covid-Impfstoffen wurden bislang in Deutschland verabreicht. Das ist deutlich weniger, als es sich viele Menschen erhofften. Aber ist es tatsächlich weniger, als möglich wäre? Nach Daten der Universität Oxford liegt tatsächlich eine ganze Reihe von Staaten vor Deutschland. Israel hat ein beispielloses Impfprogramm aufgelegt, aber auch Großbritannien und die USA stechen hervor. Dort wurden bereits etwa zwölf beziehungsweise acht von 100 Einwohnern geimpft.

In Deutschland sind es knapp drei Dosen pro 100 Einwohner. Auch was die Anzahl der täglich verabreichten Dosen, also letztlich das aktuelle Tempo betrifft, schneiden Großbritannien und die USA besser ab. Derzeit werden auf der Insel täglich 0,5 Prozent der Bevölkerung geimpft, in den USA 0,35 Prozent und in Deutschland 0,1 Prozent.

Zum Vorsprung Großbritanniens hat neben der Menge der verfügbaren Impfstoffe beigetragen, dass dort bereits Anfang Dezember das Produkt von Biontech und seinem Partner Pfizer zugelassen wurde. Die Impfungen starteten damit etwa drei Wochen früher als in Deutschland. Anfang des Jahres kam dann das Vakzin von Astra Zeneca auf den britischen Markt. Dieses Präparat kann - anders als die Produkte von Biontech und Moderna - in einem herkömmlichen Kühlschrank gelagert werden.

Jede Umverteilung ist ein Nullsummenspiel: Bekommt einer mehr, hat der andere weniger

Damit ist es auch Arztpraxen möglich, in die Immunisierungsprogramme einzusteigen. Auf der Insel dürfen darüber hinaus schon länger auch Apotheker Impfungen vornehmen. Allein in England bieten derzeit mehr als 1000 Praxen, Apotheken und Kliniken die Spritzen an - zusätzlich zu großen Impfzentren.

Auch die USA haben einen kleinen zeitlichen Vorsprung vor der EU; das Land hatte bereits Mitte Dezember mit den Impfungen gegen Covid-19 begonnen. Dennoch läuft dort nicht alles wie geplant. Ein Etappenziel, 20 Millionen Menschen bis Ende 2020 zu impfen, wurde bereits verfehlt; es gelang lediglich, knapp drei Millionen Menschen zu immunisieren. Chris Beyrer, Professor für Public Health an der Johns-Hopkins-Universität, sagt: "Die Impfkampagne ist noch zu langsam, um einen echten Effekt auf das Pandemiegeschehen zu haben." Gründe seien unter anderem die angespannte Lage des Gesundheitssystems, das noch immer mit sehr vielen Covid-Fällen kämpft, mangelnde Ressourcen und Misstrauen gegen die Impfstoffe in Teilen der Bevölkerung.

In den EU-Ländern sind die Unterschiede beim Impffortschritt weniger stark ausgeprägt. Dänemark, Portugal und Italien zum Beispiel haben bereits etwas mehr Dosen pro Einwohner verimpft, Österreich und die Niederlande dagegen weniger. Das dürfte verschiedene Ursachen haben. Alena Buyx, Direktorin des Instituts für Ethik der Medizin an der TU München und Vorsitzende des Deutschen Ethikrats, wies Anfang der Woche bei einer Veranstaltung der Süddeutschen Zeitung darauf hin, dass in Deutschland derzeit viele mobile Teams in Alten- und Pflegeheimen unterwegs sind. Dieses Vorgehen sei sehr zeitaufwändig - und werde nicht in allen Ländern in gleichem Ausmaß betrieben.

Die Ethikerin hob zugleich hervor, dass von Anfang an klar war, dass der Impfstoff in der ersten Zeit nicht ausreichen würde. Jede Umverteilung des knappen Guts sei letztlich "ein Nullsummenspiel". Bekommt eine Bevölkerungsgruppe oder ein Land mehr Impfstoff, fehlt es anderen.

Experten, die sich mit globaler Gesundheit beschäftigen, sehen daher auch den Streit, den sich die Industriestaaten um möglichst viele Impfdosen liefern, kritisch. Denn je mehr Dosen sie für sich selbst abzweigen, desto mehr drohen ärmere Staaten auf längere Zeit leer auszugehen.

75 Prozent der bisherigen Dosen wurden in nur zehn Ländern verabreicht

Tatsächlich sind die Impfungen derzeit weltweit extrem ungleich verteilt. Nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation WHO haben die Corona-Impfkampagnen in 50 Ländern begonnen, fast alles wohlhabendere Staaten. 75 Prozent der bisher verbrauchten Dosen wurden in nur zehn Ländern verimpft. Besonders groß ist der Mangel in Afrika. In der vergangenen Woche hatte auf dem Kontinent lediglich ein einziger der ärmeren Staaten mit den Impfungen begonnen. In Guinea erhielten insgesamt 25 Menschen den Schutz. Zu dem Zeitpunkt hatten weltweit mehr als 40 Millionen Menschen die Impfspritze bekommen.

"Es ist verständlich, dass Regierungen medizinischen Angestellten und älteren Menschen in ihren Ländern Vorrang einräumen. Aber es ist nicht richtig, wenn jüngere Erwachsene in reichen Ländern noch vor den Älteren und dem Gesundheitspersonal der armen Länder geimpft werden", kritisierte WHO-Chef Tedros Adhanom Ghebreyesus vor wenigen Tagen in einer Rede vor der Parlamentarischen Versammlung des Europarates.

Jeremy Farrar, Direktor des Wellcome Trust, warnt, dass dieses Verhalten letztlich zu Problemen auch für die reichen Staaten führen könnte: "Viele Menschen in einigen Ländern zu impfen, und das Virus unkontrolliert in weiten Teilen der Welt zirkulieren zu lassen, wird mehr Virusvarianten hervorbringen." Damit steige das Risiko, dass sich der Erreger in einem solchen Maße verändere, dass die Impfstoffe nicht mehr wirksam seien.

Doch mit großer Solidarität tun sich derzeit weder die reicheren Länder noch die Hersteller hervor, kritisiert die Nicht-Regierungsorganisation ONE. Die Organisation verweist in diesem Zusammenhang darauf, dass sich das in Europa so gescholtene Unternehmen Astra Zeneca verpflichtet hat, Impfstoffe für ärmere Länder zu produzieren. Es hat 470 Millionen Dosen für die Initiative Covax zugesagt, mit der die WHO und Partnerorganisationen bevorzugt bedürftigeren Ländern zu Impfstoffen verhelfen wollen. Weder Biontech noch Moderna hätten bisher Zusagen in diesem Umfang gemacht.

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