Süddeutsche Zeitung

Verkürztes Gymnasium:Verzicht auf die Revolution

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An jeder Schülergeneration werden neue Lehrpläne erprobt und verworfen, das Gymnasium ist eine pädagogische Baustelle. Doch der Elternprotest gegen das G 8 ebbt ab.

T. Schultz

Nachdem die Kultusminister im vergangenen Jahr den Unmut vieler Eltern zu spüren bekommen haben, ist es um das achtstufige Gymnasium (G 8) stiller geworden. In vielen Bundesländern bemühen sich derzeit die Minister, versprochene Entlastungen umzusetzen und den Kindern weniger Schulstress zu bereiten. Dadurch zieht sich das Reformprojekt G 8 weiter in die Länge; an jeder Schülergeneration werden immer wieder neue Lehrpläne erprobt und verworfen. Das Gymnasium in Deutschland wird noch auf Jahre hinaus eine pädagogische Baustelle bleiben.

Nordrhein-Westfalen lässt nun in Schulbüchern Themen, die nur fakultativ sind, eigens kennzeichnen. Bayern will einen "Lehrplanbeirat" einrichten, der helfen soll, die Curricula zu verbessern. Das Institut zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB) in Berlin bemängelt in einem Gutachten, dass Bayern in Fächern wie Physik und Chemie noch immer zu viele Details vorschreibt und dass nicht immer klar ist, was die Schüler am Ende können sollen.

Widerstand bei jedem Vorschlag

Und so müssen die Bildungspolitiker, vor allem in den westdeutschen Ländern, beim G 8 weiterhin nachjustieren. "Die Sache ist noch nicht ausgestanden", sagt Matthias Kern. Er ist Landeselternvertreter in Niedersachsen und beobachtet mit gemischten Gefühlen, wie die Schulbehörden mit Lehrern und Eltern darum ringen, die Fülle des Stoffs, der den Kindern abverlangt wird, zu reduzieren und die Zahl der Unterrichtsstunden besser auf alle Jahrgangsstufen zu verteilen. Oft seien sich auch die Eltern nicht einig, was verzichtbarer Stoff ist: die Französische Revolution, der 30-jährige Krieg? Jeder Vorschlag löst Widerstand aus.

Noch immer komme es vor, dass Schüler der unteren Jahrgänge acht oder neun Stunden hintereinander Unterricht haben, moniert Kern. Echte Ganztagsgymnasien, in denen sich Erholungs- und Anspannungsphasen abwechseln, würden weiterhin fehlen.

"G-8-Flüchtlinge" stürmen Gesamtschulen

Rheinland-Pfalz hat mit der G-8-Reform bis zuletzt gewartet und kann nun die Fehler der anderen vermeiden. Hier haben bisher erst neun Gymnasien mit dem G 8 begonnen, im nächsten Schuljahr kommen weitere vier dazu. Rheinland-Pfalz genehmigt das G 8 nur an Schulen, die auf ein Ganztagsprogramm vorbereitet und entsprechend ausgestattet sind.

So gibt es nun zwar in allen 16 Bundesländern das G 8, doch viele Abiturienten haben weiterhin 13 Jahre Zeit. Denn abgesehen von Rheinland-Pfalz bieten auch andere Länder alternative Wege zur Hochschulreife an: An Gesamtschulen und an den beruflichen Gymnasien wurde die Schulzeit nicht gekürzt. Viele Gesamtschulen werden deshalb von "G-8-Flüchtlingen" bestürmt. In Nordrhein-Westfalen mussten sie in diesem Schuljahr Tausende Bewerber abweisen, weil sie nicht genügend Plätze hatten. "Die Gesamtschulen werden überrannt", berichtet der Jurist Matthias Kern auch für Niedersachsen.

Auf der nächsten Seite: Warum es beim Sturm auf die Hochschulen eng werden könnte.

Warteschleifen bis zum Studium

Eines seiner Kinder schickt der Elternvertreter auf ein Gymnasium, das andere besucht eine Gesamtschule. "Die Lernatmosphäre ist dort entspannter", sagt er. Die meisten Gesamtschulen seien seit jeher auf einen Ganztagsbetrieb ausgelegt, deshalb gebe es dort sowohl vor- als auch nachmittags nicht nur sturen Unterricht, sondern freie Zeit, Sportangebote und Raum für Kreativität.

In den meisten Bundesländern läuft das neunstufige Gymnasium in den kommenden Jahren allmählich aus; noch benötigen die höheren Jahrgänge also zumeist immer noch 13 Jahre. Weil jedes Land zu einem anderen Termin das G 8 eingeführt hat, wird es zu unterschiedlichen Zeiten "doppelte Abiturjahrgänge" geben. Im Saarland werden in diesem Jahr die Schüler des auslaufenden G 9 ebenso wie die ersten Schüler des neuen G 8 Abitur machen; in Bayern und Niedersachsen ist es 2011 so weit, in Bremen und Baden-Württemberg ein Jahr später und 2013 schließlich in Nordrhein-Westfalen. In diesen Jahren könnte es vor allem beim Übergang an die Hochschulen eng werden. Abiturienten mit weniger guten Noten müssen befürchten, nicht sofort einen Studienplatz zu bekommen. So würden viele Abiturienten die Zeit, die sie durch das G 8 sparen, am Ende nur in Warteschleifen bis zum Studium verbringen.

Wunsch nach Ruhe

Noch unübersichtlicher wird die bildungspolitische Landkarte dadurch, dass die Grundschulzeit nicht überall gleich lang ist. In Berlin und Brandenburg wechseln die Kinder in der Regel erst nach der sechsten Klasse auf eine weiterführende Schule; das Gymnasium müsste dort dementsprechend nicht G 8, sondern G 6 heißen, weil es nur sechs Klassenstufen umfasst. Doch gibt es zahlreiche Ausnahmen: Manche Kinder dürfen, wenn ihre Noten gut sind und die Eltern darauf dringen, schon nach der vierten Klasse die Grundschule verlassen und ein achtstufiges (früher neunstufiges) Gymnasium besuchen.

Die schwarz-grüne Koalition in Hamburg plant derzeit ebenfalls, die Grundschulzeit zu verlängern. Politisch sehr umkämpft ist in der Hansestadt derzeit die Frage, ob Ausnahmen erlaubt werden und humanistische Gymnasien weiterhin acht Jahrgänge umfassen dürfen.

In den meisten europäischen Ländern ist eine Grundschulzeit von sechs Jahren oder länger üblich; die Hochschulreife wird zumeist nach zwölf Jahren vergeben. Schulsysteme lassen sich jedoch nur schwer reformieren. Viele Gymnasiallehrer in Deutschland wünschen sich mittlerweile nur noch, von der Politik möglichst in Ruhe gelassen zu werden.

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SZ vom 9.1.2009/bön
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