Süddeutsche Zeitung

Akademisierung:Doktorarbeit

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In vielen Gesundheitsberufen muss mehr geleistet werden als früher. Auch deshalb werden Hebammen, Pfleger oder Logopäden immer öfter auch an Hochschulen ausgebildet. Das schürt Rivalitäten.

Von Christine Prußky

Bislang lief es recht gut für die Hochschule für Gesundheit in Bochum. Sie wurde 2009 gegründet und nahm ein Jahr später den Lehrbetrieb auf - als erste und bis heute einzige staatliche Hochschule, die komplett auf Gesundheitsfachberufe ausgerichtet ist. Vor nicht einmal einem Jahr ist die Einrichtung umgezogen, das neue Gebäude kostete 75 Millionen Euro. Dort lernen die angehenden Logopäden, Physiotherapeuten, Ergotherapeuten, Hebammen und Pfleger nun in lichtdurchfluteten Räumen.

Die Geschichte der Bochumer Hochschule muss nun aber wohl um ein Kapitel ergänzt werden - um eines, das aus Sicht von Rektorin Anne Friedrichs "extrem unerfreulich" ist. Sie spricht von einer "sehr, sehr unbefriedigenden Situation für die Hochschule" und berichtet von der "Riesenenttäuschung für die Kollegen, die sich hier seit Jahren engagieren". Damit meint Friedrichs die jüngste Empfehlung des Bundesgesundheitsministeriums, die 2009 begonnene bundesweite Modellphase für Studiengänge der Physio- und Ergotherapie, der Logopädie und der Geburtshilfe um weitere zehn Jahre bis 2027 zu verlängern - und diese nicht, wie gehofft, zum nächsten Jahreswechsel in Regelstudiengänge zu überführen. Das Bundeskabinett hat schon zugestimmt.

Die Entscheidung betrifft nicht nur die Hochschule Bochum mit ihren derzeit fast 1000 Studenten, sondern jede Universität und Fachhochschule in Deutschland, die eines der vier Fächer anbietet. Fast zwei Dutzend Institutionen sind im Hochschulverbund Gesundheitsfachberufe organisiert - darunter auch prominente Namen wie die RWTH Aachen und die Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Als "vollkommen unverständlich" kritisierte auch der Verband den Kabinettsbeschluss vom August. Denn damit werde die "überfällige Weiterentwicklung der Therapieberufe" hinausgezögert oder gar ganz verhindert.

Dass einzelne Universitäten Modellstudiengänge anbieten, ist nicht ungewöhnlich. Es gibt diese Programme vor allem in der Medizin - sie sind der Versuch, das alte Staatsexamensstudium auf die neuen Abschlüsse Bachelor und Master umzustellen. Bei den Pflegern und Therapeuten ist die Sache anders, dort sollen die Studienabschlüsse die bisherigen Berufsausbildungen ersetzen, jedenfalls zu einem gewissen teil. Die Akademisierung ist allerdings umstritten - es geht darum, was Pfleger, Geburtshelfer, Logopäden, Physio-, und Ergotherapeuten wissen müssen und in welchen Ausbildungswegen sie das am besten lernen. Die Bundesregierung ist noch nicht überzeugt, dass eine akademische Ausbildung der Fachkräfte auch wirklich die Qualität der Patientenversorgung verbessert - deshalb tritt sie auf die Bremse und will die Modellstudiengänge noch ein paar Jahre weiterlaufen lassen.

2050 werden vier Millionen Menschen pflegebedürftig sein - doppelt so viele wie heute

Am Beispiel der Pflege wird deutlich, dass die Frage nach der besten Ausbildung des Personals drängend ist. Prognosen zufolge erhöht sich die Zahl der Pflegebedürftigen in Deutschland bis zum Jahr 2050 auf etwa vier Millionen, das wären fast doppelt so viele wie heute. Die Pfleger von morgen sollten idealerweise nicht nur besonders zahlreich vorhanden, sondern auch bestens ausgebildet sein. Eine Akademisierung des Berufs würde vermutlich nicht nur den Ruf nach einer besseren Bezahlung der Pfleger nach sich ziehen - Krankenpfleger verdienen derzeit etwa 3000 Euro brutto, Altenpfleger 2300 Euro. Sie könnte auch bestehende Rivalitäten zwischen Ärzten und Pflegern verschärfen. Schon heute treibt die Mediziner die Sorge um, dass die Akademisierung der Gesundheitsfachberufe finanziell zulasten der Ärzte gehen könnte. Die Arbeitsgemeinschaft Hochschulmedizin, zu der die Bundesärztekammer und die Ärztegewerkschaft Marburger Bund gehören, äußerte jedenfalls schon entsprechende Bedenken. Nach Ansicht der Bochumer Rektorin Anne Friedrichs müsse eine "bessere therapeutische Leistung natürlich auch besser bezahlt werden".

Allerdings ergab die nun vorgelegte Bewertung von 25 Modellstudiengängen in Deutschland keine belastbaren Hinweise darauf, dass Pfleger und Therapeuten, die an einer Hochschule ausgebildet werden, am Ende bessere Arbeit am Patienten leisten als jene, die eine Berufsausbildung durchlaufen. Zugleich forderte der Wissenschaftsrat, ein Beratungsgremium der deutschen Bundesregierung, schon vor vier Jahren, dass künftig zehn bis 20 Prozent eines Ausbildungsjahrgangs in Pflege, Therapieberufen und der Geburtshilfe an Hochschulen ausgebildet werden sollen. Das Studium solle auf Tätigkeiten in der Wissenschaft, aber auch auf Managementaufgaben vorbereiten. "Neue Möglichkeiten in der Diagnostik, Therapie, Prävention, Rehabilitation und Pflege verstärken die Anforderungen an die Gesundheitsberufe", begründete das Kölner Expertengremium sein Votum. "Auf die gestiegenen Qualifikationserfordernisse muss in der Ausbildung adäquat reagiert werden", so lautete das Fazit. Und auch das skeptische Bundesgesundheitsministerium nannte es nun "dauerhaft wünschenswert", entsprechende Studiengänge einzurichten und so zumindest eine "Teilakademisierung" zu erreichen.

Um belastbare Aussagen über die mögliche gesellschaftliche Wirkung einer Hochschulausbildung in Gesundheitsberufen treffen zu können, ist die Zahl der Absolventen der entsprechenden Modellstudiengänge derzeit noch zu gering. Auch fehlt es aktuell an umfassenderen Studien zum Verbleib der Absolventen, zu ihren Karrierewegen und zu ihrer Bezahlung. Ersten Schätzungen zufolge bekommen Absolventen von Therapeuten-Studiengängen monatlich bis zu 200 Euro mehr als ihre Kollegen ohne Fachstudium - also zwischen 1800 und 2000 Euro brutto im Monat.

Allen Unwägbarkeiten zum Trotz fallen die vorliegenden Evaluationen der Modellstudiengänge insgesamt positiv aus. Auch Angehörige der Berufspraxis loben die Programme. Die Studenten "würden sich schneller einarbeiten, seien lernbereiter" und "würden durch ihr aktuelles Wissen aus Theorie und Forschung zur Weiterentwicklung praktischer Methoden im Berufsalltag beitragen", heißt es etwa in einem Bericht. Auch weil es vielfach solch positive Bewertungen gibt, reagieren die betroffenen Hochschulen mit Unverständnis darauf, dass die Politik sie weiterhin nur ausprobieren lässt. "Fachlich lässt sich diese Entscheidung schlicht nicht begründen", sagt Anne Friedrichs aus Bochum. "Erklären kann ich sie mir nur politisch mit den anstehenden Bundestagswahlen im kommenden Jahr und dem langsam schon einsetzenden Wahlkampf, in dem der Politik andere Themen wichtiger erscheinen."

Mit einer bloßen Aufhebung der Modellklausel wäre es nicht getan. Um die Studiengänge im Regelbetrieb fortzuführen, müssten die Berufsgesetze für Physiotherapeuten, Ergotherapeuten, Logopäden und Geburtshelfer geändert werden - und da liegt der Teufel im Detail. Wie schnell in solch einer Phase Streit entflammt, erfahren Bundestagsabgeordnete gerade bei der geplanten Reform des Pflegeberufsgesetzes, die im Bundestag ins Stocken geraten ist. Der CDU-Bundestagsabgeordnete Rudolf Henke geht zwar davon aus, dass das Parlament noch in dieser Legislatur zu einer Entscheidung kommt. Er glaubt aber nicht, dass die Gesundheitspolitiker sich darüber hinaus noch mit anderen Berufsgesetzen befassen könnten. "Wenn ich mir ansehe, welche gesundheitspolitischen Entscheidungen wir sonst noch vor der Brust haben, ist die Vorstellung unrealistisch", sagt Henke. Als Arzt und Vorsitzender der Ärztegewerkschaft Marburger Bund weiß Henke um die neuralgischen Punkte in der Diskussion um eine Akademisierung der Gesundheitsberufe. So schwinge in der Debatte immer wieder mit, dass eine Hochschulausbildung es Pflegern und Therapeuten ermöglichen könnte, "Ersatzarzt zu spielen". Das werde aber nicht der Fall sein. Eine Ausweitung der Kompetenzen etwa bei der Verordnung von Medikamenten durch Pfleger "sehe ich nicht einmal am Horizont", so Henke.

Therapeutische Berufe und Hebammen befanden sich lange im toten Winkel. Das ändert sich

Welche Gestaltungsmacht die nicht-ärztlichen Gesundheitsberufe am Ende haben werden, ist also zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch längst nicht ausgemacht. Klar aber ist, dass sich mit der Akademisierung neue Standesinteressen herausbilden - und diese mit anderen kollidieren könnten. Beispiel Physiotherapie, die in Deutschland bislang vielfach als Semi-Profession gesehen wird. "Die Akademisierung der Ausbildung würde diesen Schwebezustand beenden", erklärt Birgit Schulte-Frei, Dekanin und Professorin für Physiotherapie an der privaten Hochschule Fresenius. Noch etwas deutlicher wird der pensionierte Sozialrechtler Gerhard Igl, der kürzlich im Auftrag des von den Grünen geführten Gesundheitsministeriums in Nordrhein-Westfalen eine Begleitstudie zur Akademisierung in den Gesundheitsberufen erstellt hat. "Die therapeutischen Berufe und die Hebammen befanden sich lange Zeit im toten Winkel der Politik", sagt Igl. Erst in den vergangenen fünf bis zehn Jahren habe die "Emanzipation der therapeutischen und anderen Heilberufe begonnen". Und - davon ist er überzeugt - sie sei noch nicht zu Ende.

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SZ vom 05.09.2016
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