Süddeutsche Zeitung

SZ-Serie: Dem Schnabel nach:Wie Schnepfinger den Heimweg findet

Lesezeit: 3 min

Von Christian Sebald

Das Orientierungssystem von Schnepfinger ist sehr komplex. Das hat der 2200 Kilometer lange und 36 Stunden kurze Rekordflug des Großen Brachvogels aus seinem Überwinterungsgebiet in Südspanien zurück in sein Brutgebiet im Königsauer Moos in Niederbayern deutlich gemacht. "Denn so ohne Weiteres oder gar zufällig hat Schnepfinger die Route ganz sicher nicht ausfindig gemacht", sagt Andreas von Lindeiner. Lindeiner muss es wissen: Der Biologe und oberste Artenschützer beim Landesbund für Vogelschutz (LBV) zählt zu den versiertesten Ornithologen in Bayern. "Über das Orientierungssystem der Großen Brachvögel wissen wir vieles noch nicht, zumindest nicht genau", sagt Lindeiner, "es gibt noch nicht einmal eine wissenschaftliche Studie, wie sich Schnepfinger und Co. auf ihren Flügen zwischen den Heimatrevieren und ihren Überwinterungsquartieren zurechtfinden." Dafür gibt es solche Studien zu anderen Zugvögeln. Deren Ergebnisse sind vom Grundsatz her auf Schnepfinger übertragbar.

Die Großen Brachvögel zählen zu den seltensten Tieren in Bayern und sind vom Aussterben bedroht. Um sie zu retten, hat der LBV ein großes Forschungsprojekt gestartet. Er hat Schnepfinger und anderen Brachvögeln leistungsstarke GPS-Sender auf die Rücken geschnallt. Mit den Geräten, die stündlich via Handynetz Daten an die Computer in der LBV-Zentrale im fränkischen Hilpoltstein schicken, wollen die Forscher herausbekommen, was den Tieren den lieben langen Tag alles passiert. Denn obwohl Brachvögel heimische Tiere sind und einst sehr häufig waren, weiß man nur wenig über sie.

Schnepfingers Orientierungssinn ist offenbar eine Kombination aus vier Faktoren. "Da ist zunächst einmal eine genetische Programmierung", sagt Lindeiner. "Sie dürfte die grobe Zugrichtung von Niederbayern nach Südwesten in Richtung Spanien und Marokko betreffen, wo die Brachvögel aus Bayern alle überwintern." Und natürlich auch die grobe Richtung wieder zurück nach Nordosten. "Schnepfinger kennt sie gleichsam von Geburt an", sagt Lindeiner, "er käme wohl nie auf die Idee, sich einfach mal in Richtung östliches Mittelmeer aufzumachen."

Außerdem kann sich Schnepfinger nach dem Erdmagnetismus richten. "Er hat gleichsam ein Sinnesorgan oder eine Art inneren Kompass, mit dem er wahrnimmt, wie sich das Erdmagnetfeld verändert, je weiter er nach Süden oder nach Norden kommt", sagt Lindeiner. Forscher an der Uni Oldenburg haben schon vor zehn Jahren in einer Studie mit Rotkehlchen herausgefunden, dass dieses Sinnesorgan im Bereich der Augen liegt und die Tiere dadurch die Ausrichtung des Magnetfelds regelrecht sehen können, wie die Zeitschrift Spektrum der Wissenschaft berichtet hat.

"Auch der Sonnenstand und der nächtliche Sternenhimmel sind sehr wichtig", sagt Lindeiner. Große Brachvögel sind in der Hauptsache Nachtzieher. "Da sind sie sicherer vor Feinden. Falken und andere Raubtiere jagen tagsüber und Eulen fangen keine fliegenden Vögel." Die Navigation mit dem Sternenkompass müssen Zugvögel offenbar aber erst lernen. Berichten zufolge haben Indigofinken, die in Gefangenschaft aufgewachsen sind und in ihrer Jugend niemals den Sternenhimmel gesehen haben, sich später auf dem Vogelzug nicht orientieren können.

Und dann spielen noch auffällige Landmarken eine wichtige Rolle. "Das sind zum Beispiel Flüsse und Gebirge", sagt Lindeiner, "es können aber eben auch Autobahnen und andere Verkehrswege sein." Gerade bei den Landmarken, aber auch für die letzten Kilometer ins Brutrevier oder Winterquartier spielt die individuelle Prägung eine große Rolle. "Keine genetische Programmierung, kein Sinn fürs Erdmagnetfeld und auch keine Orientierung am Sternenhimmel kann so genau sein, dass Schnepfinger vom Donautal her die untere Isar entlang exakt in sein angestammtes Brutrevier im Königsauer Moos zurückfindet", sagt Lindeiner. "Das schafft er nur, wenn er sich den Weg eingeprägt hat und ihn wiedererkennt." Für dieses Einprägen dürfte nicht nur der extrem gute Sehsinn der Vögel wichtig sein, sondern auch ihr sehr feiner Geruchssinn.

Ganz zentral dafür ist freilich, dass die Vögel ein Erinnerungsvermögen haben. "Das kann man immer wieder an Jungvögeln beobachten, die zum ersten Mal auf dem Winterflug in Richtung Süden sind", sagt Lindeiner. "Die fliegen wie erwachsene Tiere relativ pfeilgerade nach Südwesten und Richtung Spanien und Marokko." "Unten angekommen kann es aber passieren, dass die Jungvögel einfach weiterfliegen auf den offenen Atlantik hinaus", berichtet Lindeiner - bis sie merken, dass sie übers Ziel hinausgeschossen sind. Dann drehen sie um, fliegen zurück ans Land und suchen sich dort ein passendes Winterquartier. "Einem erwachsenen Vogel passiert so etwas nicht mehr", sagt Lindeiner, der hat sich das Ziel offenkundig sehr genau gemerkt, schaltet auf Sichtflug um und landet exakt am Zielort."

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Quelle:
SZ vom 06.04.2019
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