Süddeutsche Zeitung

Raubling:Wie Chirurgen einem 13-Jährigen den Unterarm retteten

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Von Helena Ott, München

Eigentlich wollte die Familie des Jungen aus dem Landkreis Rosenheim zum Ferienstart nach Ägypten fliegen. Statt dort im Meer zu baden, liegt der 13-Jährige seit Tagen im Münchner Universitätsklinikum. Fast zehn Stunden dauerte die Operation, in der ihm von einem Team aus mehr als zehn Chirurgen und Anästhesisten der rechte Unterarm angenäht wurde.

Am Nachmittag sei er mit zwei Freunden zum See gefahren, berichtet der Großcousin des Buben. Wie an vielen bayerischen Badeseen kann man sich am Hochstraßer See, zwölf Kilometer südlich von Rosenheim, mit einem Seil von einem Baum in den See schwingen. Doch als der 13-Jährige damit ins Wasser springen wollte, löste sich die Seilschlinge nicht von seinem Arm. Durch den Schwung und sein Körpergewicht riss der rechte Unterarm nahe des Ellenbogens ab.

Dass der Arm von den Chirurgen wenige Stunden später angenäht werden konnte, verdankt der Bub seinen Freunden, die ihm Erste Hilfe leisteten. Einer der beiden zog ihn aus dem Wasser, danach bargen sie den abgerissenen Arm. Etwa 500 Meter lief der Verletzte noch selbst zum Kiosk am Seeufer. Dort hatte er das Glück, dass eine medizinisch-geschulte OP-Assistentin unter den Badegästen war und das Amputat versorgte, bis die Rettungskräfte zum See kamen. "Das alles hat entscheidend mit zu einer vorerst erfolgreichen Replantation beigetragen", sagt Riccardo Giunta, Leiter des Hand-Trauma-Zentrums an der Ludwig-Maximilians-Universität. Der Arzt hat den Schwerverletzten zusammen mit seinem Team operiert. Der Blutkreislauf zum Unterarm konnte in der Unfallnacht wieder hergestellt werden. Auch die Nerven, Muskeln und Sehnen wurden zusammengenäht, der Knochen verschraubt.

Wie man amputierte Körperteile versorgt, ist nicht Teil des Erste-Hilfe-Kurses - zu speziell. Doch das Badeunglück zeigt, dass entschieden handelnde Ersthelfer Arme, Beine oder Finger retten können. Wichtig ist laut Handchirurg Giunta, die Blutung am Stumpf möglichst schnell zu stoppen. "Dazu kann man einen eingerollten Verband auf die Arterienenden drücken und mit einer elastischen Binde fixieren."

Beim Amputat gelte eine entscheidende Regel: "Kühlen, aber niemals direkt auf Eis legen", warnt Giunta, weil bei direktem Kontakt Erfrierschäden am Gewebe entstehen. Wenn möglich, solle man das Amputat in ein steriles Verbandstuch wickeln, in einer Tüte verpacken und diese in einer zweiten Tüte mit Eis und reichlich Wasser kühlen. Unfälle mit abgerissenen Gliedmaßen seien aber auch für ihn eher die Ausnahme, sagt Giunta. Er verweist auf einen ähnlichen Fall in Paderborn in diesem Sommer, bei dem einem 24-Jährigen ebenfalls der Unterarm von einem Seil abgerissen wurde. Rettungstaucher mussten den Arm aus zweieinhalb Metern Tiefe bergen.

Häufiger sind Verletzungen mit glattem Schnitt: Waldarbeiter, die sich mit dem Holzspalter verletzen, andere sägen sich die Finger ab, Industriearbeiter verlieren an schweren Maschinen Gliedmaßen. Es komme auch immer wieder vor, dass Menschen sich mit dem Ehering einen Finger amputierten, beispielsweise, wenn sie beim Versuch, einen Zaun zu überwinden, hängen blieben. Der Chirurg warnt auch davor, Hundeleinen und Pferdehalfter um das Handgelenk oder den Daumen zu wickeln.

Die Behandlung abgerissener Körperteile ist komplex: Bevor Chirurgen mit dem Nähen beginnen können, müssen sie überdehnte Gefäße und Nerven ersetzen und abgestorbenes Gewebe an Sehnen und Muskeln entfernen. Auch dem Buben aus dem Landkreis Rosenheim mussten Venen aus dem Fuß transplantiert werden. Sein rechter Arm ist nun fünf Zentimeter kürzer als der linke. Nach der Operation braucht er Geduld. "Die Nervenheilung dauert lange, erst nach einem halben Jahr kann man sagen, wie sensibel und beweglich der Arm wieder wird", sagt Giunta. Eine lange Zeit für einen Teenager, dessen Freunde gerade die Sommerferien im Freien genießen.

Der 19-Jährige Raphael Baud, Großcousin des Unfallopfers, wollte nicht nur abwarten. Er überlegte, wie er die Familie unterstützen könnte. Seine Mutter brachte ihn auf die Idee, einen Spendenaufruf zu starten. Schon zwei Tage, nachdem der gelernte Informatiker den Aufruf auf der Internetseite www.gofundme.com veröffentlicht hatte, waren bereits mehr als 11 000 Euro zusammengekommen. "Die Hilfsbereitschaft der Menschen überwältigt uns", sagt Baud. Unter ihnen seien auch Spender, die den Buben nicht kennen, aber Kinder im gleichen Alter haben.

"Durch die Behandlungskosten des Unfalls wird der Junge aber nicht in finanzielle Not geraten", sagt Handchirurg Giunta. Der Klinikaufenthalt mit allen Behandlungen und Reha-Maßnahmen werde von der Krankenkasse getragen. Mit dem gespendeten Geld will der Großcousin dem Jungen dennoch ein finanzielles Polster für die Zeit nach der Kinderklinik schaffen. "Einer seiner ersten Wünsche, noch auf der Intensivstation, war ein Fahrrad, das auf seinen Arm angepasst ist", sagt Baud.

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SZ vom 06.08.2019
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