Süddeutsche Zeitung

Augsburg:Eine Art Kirchenasyl für Musiker

Lesezeit: 2 min

Eine 24-Stunden-Andacht im Dom soll der Gemeinde Trost spenden und Künstlern helfen

Von Sabine Reithmaier

Vermutlich muss man ehemaliger Knabenchorsänger sein, um so ein gewaltiges Projekt wie "Palestrina - A Global Prayer for the People" so schnell auf die Beine stellen zu können. Gerade mal drei Wochen ist es her, dass Thomas E. Bauer in der ersten Ausgabe des SZ-Lockdown-Tagebuchs "Bühne? Frei!" darüber nachdachte, was Künstler derzeit noch dürfen. "Im Stillen arbeiten und - beten." Aber da laut Augustinus derjenige, der singt, zweimal betet - "Bis orat, qui cantat" - müsste eine 24-stündige Meditation im Wechselgesang möglich sein, folgerte er. Weil ihn als Regensburger Domspatz der Palestrina-Mythos von Musik und Erlösung fasziniert hatte, sollte es ausschließlich Musik des italienischen Komponisten (um 1525 - 1594) sein. "Reine und erhabene Polyphonie, vier bis achtzehnstimmig. Ein Mantra der Utopie."

Jetzt steht das Projekt. Die Musiker zu finden, war nicht schwierig, dazu haben Leute wie Bauer zu viele Kontakte, die Sänger im Moment zu viel Zeit. Doch dass die musikalische Andacht an diesem Freitag um 18 Uhr im Hohen Dom zu Augsburg beginnt, verdankt er Stefan Steinemann, dem jungen Domkapellmeister mit Knabenchor-Vergangenheit. Als ehemaliger Augsburger Domsingknabe ist er wie Bauer mit geistlicher Musik aufgewachsen, er war sofort begeistert von der Idee. Seinen Chef, Bischof Bertram Meier, musste er nicht lang bearbeiten. Der Bischof wisse um den Trost, den diese Musik spenden könne, sagt Steinemann, verstehe es als geistliches Signal in trüben Zeiten. "Und wir singen zu 100 Prozent Palestrina."

Da macht es gar nichts, dass die Mär von Giovanni Pierluigi da Palestrina als Retter der Kirchenmusik zwar schön, aber historisch nicht belegt ist. Auf dem Konzil von Trient (1545 - 1563), als die Kirche versuchte, Lehren aus der Reformation zu ziehen, stand auch die Kirchenmusik zur Debatte. Die Reformer wollten den mehrstimmigen Gesang angeblich aus dem Gottesdienst verbannen und zu einfacheren Klangstrukturen zurückkehren, damit die Gläubigen das gesungene Wort besser verstünden. Doch Palestrina trat mit seiner "Missa Papae Marcelli" den überzeugenden Beweis an, dass sich Polyphonie und Textverständlichkeit nicht gegenseitig ausschließen.

An der 24-Stunden-Andacht wirken unter anderen der Chor der KlangVerwaltung mit, die Vokalensemble Singer Pur, Aux Antiqua und Quintessenz, die Choralschola St. Ottilien, das Solistenensemble vom Konzerthaus Blaibach sowie der Gambenspieler Sigiswald Kuijken und die Cembalistin Olga Watts. Eröffnet wird das musikalische Gebet von Bischof Meier, der dann aber den Augsburger Domsingknaben und den anderen Sängern die Kirche überlässt. Da nur wenig Gläubige in den Dom dürfen, überträgt der internationale Klassik-Streaming-Dienst Idagio die 24 Stunden weltweit. Der kostenfreie Zugang zum Video-Livestream ist unter www.idagio.com/de/live/event/palestrina-a-global-prayer-for-the-people zu finden. Spenden, die auf das Konto der Augsburger Domsingknaben eingehen, kommen den Künstlern zugute.

24-stündige Andacht im Hohen Dom zu Augsburg , Freitag, 20.11., 18 Uhr bis Samstag, 21.11., 18 Uhr

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.5120929
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 20.11.2020
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.