Süddeutsche Zeitung

Shared Space:Platz für alle

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Die Idee, dass sich motorisierte und nicht motorisierte Verkehrsteilnehmer denselben Raum teilen, gewinnt immer mehr Freunde. Nun startet in London ein neues Projekt.

Ariane Ruediger

Roberto Asanti schaut zufrieden auf seine Außenschankfläche am Memminger Weinmarkt. Dort genießen bei schönem Wetter die Gäste des Café Moritz den Sonnenschein.

"Der Platz ist zu einer echten Toplage geworden", freut sich der Gastronom. Dass das Verweilen dort Spaß macht, sieht man: Flanierer kreuzen seelenruhig die Straße, Autofahrer zuckeln langsam dahin, parkende Autos sind nur wenige zu sehen.

Das schwäbische Memmingen mit seinen etwa 41.000 Einwohnern ist eigentlich kein Ort für verkehrspolitische Revolutionen. Bis vor zwei Jahren bestand der zentral gelegene Weinmarkt hauptsächlich aus Parkplätzen. Wer hier vorbeikam, fuhr durch.

Die Memminger Innenstadt verödete wie vielerorts, und so überlegte die Stadtverwaltung, was zu tun sei. Nicht nur für den Weinmarkt, sondern für den gesamten Stadtkern waren neue Ideen gefragt. Dabei stieß man auf das Shared-Space-Konzept. Im deutschen Recht entspricht dem am ehesten die Begegnungszone.

"Wir haben am Weinmarkt als Alternative eine Fußgängerzone erwogen und uns für den Shared Space entschieden, um den Durchgangsverkehr nicht auszusperren", erklärt Oberbürgermeister Ivo Holzinger. Insgesamt, sagt er, sei das Projekt ein Erfolg.

Aber es gebe auch Kritik. Zu den Unzufriedenen gehört der Betreiber einer Metzgerei am Weinmarkt: "Wir haben erhebliche Umsatzeinbußen, weil Kurzparkplätze fehlen. Unsere Kunden wollen nicht flanieren, sondern schnell was einkaufen. Die gehen jetzt zum Supermarkt auf der grünen Wiese", beklagt sich der Geschäftsmann, der lieber ungenannt bleiben möchte.

Die Idee zum Shared-Space-Konzept, das Konflikte mit und zwischen unterschiedlichen Nutzergruppen des Straßenraums schon im Ansatz durch umfangreiche Beteiligungsmaßnahmen entschärfen will, entwickelte vor rund 20 Jahren der inzwischen verstorbene Niederländer Hans Monderman, damals Sicherheitsbeauftragter des niederländischen Bezirks Friesland. Das Ziel: Verödete Dorfstraßen sollten wieder belebt werden.

Später ließ er den Begriff schützen und gründete das Shared-Space-Institut, das Wissen zum Thema sammelt und verbreitet. Anna Fehmel, Mitautorin des derzeit einzigen Standardwerks zum Thema ("Shared Space - Beispiele und Argumente für öffentliche Räume", AKP-Verlag 2010) betont: "Hier muss man gewohnte Denkwege aufbrechen und das Thema Verkehr ganz neu ansehen."

Monderman setzte nicht nur bei der Planung auf intensives Miteinander. Statt durch Unmengen von Zeichen und Markierungen ferngesteuert zu werden, sollen sich alle Verkehrsteilnehmer aktiv verständigen.

Dafür werden im idealtypischen Shared Space möglichst viele Verkehrszeichen, Zebrastreifen und alle Ampeln entfernt, der Fußgänger- und Radverkehr nicht mehr vom Autoverkehr getrennt, Parkplätze möglichst anderswo hin verlagert und die Geschwindigkeit radikal beschränkt - auf wenig mehr als Schritttempo. Angestrebt wird die produktive Verunsicherung gerade der motorisierten Verkehrsteilnehmer, die wesentlich aufmerksamer sein müssen.

In einer solchen Umgebung atmen Fußgänger auf, und alle kommen sicher vorwärts - selbst Autofahrer meist sogar schneller als auf üblichen Straßen, da der Verkehr zwar langsam, aber stetig fließt. Die Unfallstatistik bestätigt die Theorie. Zumindest ist keiner der bekannten Shared-Space-Versuche durch häufige Unfälle aufgefallen.

Das bestätigt selbst der ADAC, der eine Broschüre zu Shared Spaces herausgebracht hat. Ralf Stock, Referent Verkehrssicherheit, schränkt allerdings ein: "Länger als 500 bis 600 Meter sollte ein Shared-Space-Abschnitt nicht sein, und mehr als 12.000 Fahrzeuge pro Tag sollten dort auch nicht verkehren."

Letzteres macht entsprechende Vorhaben gerade in großen Städten oft zunichte. So im Berliner Bezirk Pankow mit seinen 370.000 Einwohnern. Drei Projekte wurden im Rahmen des Berliner Verkehrsentwicklungsplans dort vorgeschlagen, realisiert bisher keines. Eines lehnte die Bezirksverordnetenversammlung (BVV), das lokale Parlament, explizit wegen zu hoher Verkehrsdichte ab.

"Die Gegebenheiten einer süddeutschen Kleinstadt lassen sich nun mal nicht eins zu eins auf eine Millionenstadt übertragen", begründet Wolfram Kempe, Vorsitzender des Ausschusses für öffentliche Ordnung, Verkehr und Verbraucherschutz der dortigen BVV, das zögerliche Procedere.

In der englischen Hauptstadt London dagegen prescht man wie bei der Citymaut voran: Dort wird die sehr belebte Exhibition Road, mit wichtigen Museen ein Muss für Touristen, nach mehrjähriger Vorbereitung zum Shared Space umgebaut.

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Quelle:
SZ vom 29.11.2010
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