Verkehrsprojekt Shared Space:Sicherheit durch Verunsicherung

Das niedersächsische Bohmte hat vor Jahren den "Shared Space" eingeführt, eine Zone völlig ohne Verkehrsschilder. Was hat's gebracht?

Marcus Müller

Der Hinweis zur gezielten Verunsicherung der Autofahrer ist unscheinbar - "Vorfahrt geändert" heißt es lapidar auf den Schildern an der Bremer und der Leverner Straße im niedersächsischen Bohmte. Was dann in der 13 600-Einwohner-Gemeinde folgt, ist für manche die Hoffnung auf ein rücksichtsvolleres Miteinander von Mensch und Auto. Andere fürchten um die Unversehrtheit von Fußgängern und Radfahrern.

Verkehrsprojekt Shared Space: Der öffentliche Raum ist für jeden da: In Bohmte bewegen sich alle auf einer gemeinsamen Fläche, die ...

Der öffentliche Raum ist für jeden da: In Bohmte bewegen sich alle auf einer gemeinsamen Fläche, die ...

(Foto: Foto: dpa)

Seit anderthalb Jahren sind 400 Meter der Ortsdurchfahrt von Bohmte zum Shared Space geworden, einem von allen Verkehrsteilnehmern gleichberechtigt geteilten Raum. Es gibt keine Verkehrsschilder mehr und keine Fahrbahnmarkierungen, drei Ampeln wurden abgebaut, Bordsteine verschwanden, zwischen den Häusern ist alles gleichmäßig mit bläulich-roten Klinkersteinen gepflastert. Die einzigen Verkehrsregeln heißen rechts vor links und Rechtsfahrgebot; alle Verkehrsteilnehmer verständigen sich nur durch Blicke oder Handzeichen darüber, wer zuerst geht oder fährt.

Das ungewöhnliche Konzept wurde vor gut 30 Jahren von dem niederländischen Verkehrsplaner Hans Monderman entwickelt. Er ging davon aus, dass Straßen unterschiedliche Funktionen haben. So seien Autobahnen für den schnellen Verkehr da; kleine Städte und Dörfer dagegen sollten Wohnräume für Menschen sein, dort wollte Monderman ihnen die Straße zurückgeben. Doch durch die Gleichförmigkeit der Straßenbilder erkenne ein Autofahrer überhaupt nicht mehr, in was für einem Raum er sich bewege - um das mitzuteilen, seien entlang der Straßen die Schilderwälder gewuchert. Beseitige man nun die Verkehrszeichen in Wohngegenden und hebe zusätzlich die strikte Trennung der Flächen für Fußgänger, Radfahrer und Autos auf, verunsichere das zwar, führe aber automatisch zu mehr Aufmerksamkeit und Rücksicht, so Hans Monderman.

Die Gemeinde Bohmte hatte nach jahrelanger Vorbereitung und intensiver Bürgerbeteiligung als einziger deutscher Ort von 2004 bis 2008 an einem Förderprojekt der Europäischen Union (EU) teilgenommen. Nach einer ersten, jetzt von der Gemeinde in Auftrag gegebenen Untersuchung sind drei Viertel der befragten Bewohner, Geschäftsleute und Autofahrer mit dem Umbau auf dem kurzen Straßenstück zufrieden - es gebe weniger Staus, wodurch Lärm und Luftverschmutzung geringer geworden seien. Außerdem sei es gemütlicher und sauberer als vorher. Ein heikler Punkt sind die leicht angestiegenen Unfallzahlen - wenn auch nach Angaben der Polizei hauptsächlich durch Bagatellen. "Wir haben keine schweren Unfälle, seit es Shared Space gibt", betont Heinz Ballhausen, Leiter der Polizeistation Bohmte.

Fast alle Bedenken sind gewichen

Die vielerorts mit dem Konzept verbundenen Hoffnungen sieht Siegfried Brockmann, Leiter der Unfallforschung der Versicherer (UDV) des Gesamtverbands der Deutschen Versicherungswirtschaft, dagegen äußerst kritisch: "Shared Space ist ein politischer Modebegriff", es gäbe in Deutschland nicht einmal einheitliche Kriterien. Außerdem sei Bohmte ein schlechtes Beispiel, weil es eine viel befahrene Durchgangsstraße ist: "Die Autos sind nicht nur Gast im Straßenraum, wie es das Konzept verlangt."

Verkehrsprojekt Shared Space: ... Verkehrsschilder haben ausgedient.

... Verkehrsschilder haben ausgedient.

(Foto: Foto: dpa)

Tatsächlich werden in Bohmte täglich 12.300 Fahrzeuge gezählt, knapp zehn Prozent davon sind Lkw. Und keineswegs teilen sie sich, wie erwünscht, den neu gestalteten Raum mit den Fußgängern - wie zuvor benutzen die Autos die Mitte der Straße, Fußgänger und Radfahrer sind nach wie vor nahe der Hauswände unterwegs. Und Brockmann weist auch auf Gefahren für Kinder und Senioren hin; Blindenverbände kritisieren das Konzept grundsätzlich, weil blinde und sehbehinderte Menschen sich dort nicht mehr orientieren könnten.

Bei vielen Bürgern von Bohmte dagegen sind die Bedenken gewichen. Als Monderman seine Idee vor gut fünf Jahren vorstellte, zweifelte Gastwirt Friedrich-Wilhelm Asshorn noch: "Ich war skeptisch, ob Unsicherheit mehr Sicherheit bringen kann." Heute ist er überzeugt: "Es funktioniert, weil alle mehr aufeinander achten."

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