Süddeutsche Zeitung

Nahverkehr:Fahren ohne Fahrschein

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In Bonn können Kunden im Nahverkehr nun ihr Ticket einfach mit EC- oder Kreditkarte lösen. Damit sollen auch Menschen, die nur selten Busse und Bahnen nutzen, zum Umstieg bewegt werden. Kann das klappen?

Von Steve Przybilla

Glück gehabt! Gerade noch rechtzeitig hechtet eine junge Frau in die Linie 62, bevor sich die Türen schließen. Als die Straßenbahn im Bonner Stadtzentrum losfährt, setzt sich die Passagierin schnurstracks auf ihren Platz - ohne ein Ticket zu lösen. Das heißt aber nicht, dass sie schwarzfährt: Genauso gut könnte sie eine Monatskarte besitzen, den Fahrschein zuvor per Smartphone-App, am Kiosk oder am Automaten gekauft haben. Nur wenige Fahrgäste holen sich ihre Tickets noch beim Fahrer.

In Bonn haben Nutzerinnen und Nutzer des öffentlichen Personennahverkehrs (ÖPNV) seit September 2020 eine weitere Bezahlmöglichkeit, genannt "Bonn-Smart". Beim Ein- und Aussteigen muss man lediglich eine EC- oder Kreditkarte an ein Lesegerät halten. Am Ende des Tages berechnet ein Computer dann automatisch die gefahrenen Strecken und den günstigsten Fahrpreis, zum Beispiel eine Einzelfahrt oder ein Tagesticket. Eine Registrierung ist nicht notwendig. Ob die Karte von der heimischen Sparkasse, von Visa oder einer der vielen Privatbanken stammt, ist ebenfalls egal. Einzige Voraussetzung: Sie sollte den Funkstandard NFC beherrschen, um sich mit den Lesegeräten in den Fahrzeugen verständigen zu können.

"Sie müssen sich nicht mit Tarifen auseinandersetzen, keine App herunterladen und kein Kleingeld dabeihaben", sagt Reiner Brämer, der zuständige Projektleiter bei den Bonner Stadtwerken (SWB). Bei einer Testfahrt über den Rhein möchte er selbst vorführen, wie einfach es funktioniert. Er holt seine Kreditkarte hervor, hält sie vor das Lesegerät - und blickt auf einen roten Bildschirm. Eine Fehlermeldung, kann ja mal passieren. Beim nächsten Anlauf klappt's; das Gerät hat Brämers Zahlungsmittel akzeptiert.

Die Daten helfen bei der Verkehrsplanung

Die Idee dahinter ist simpel: "Wir wollen die letzten Hürden nehmen, die Menschen vom ÖPNV abhalten", erklärt der Projektleiter. Er meint insbesondere Touristen oder Geschäftsreisende, die sich mit dem Tarifsystem vor Ort nicht auskennen. Bei Bonn-Smart stellt sich dieses Problem nicht, der Fahrpreis wird ja automatisch berechnet.

Auch dem Verkehrsunternehmen sollen die gesammelten Daten langfristig helfen: Wenn genügend Personen mit ihren Karten ein- und auschecken, lassen sich Verkehrsströme besser erfassen. Je nach Bedarf können auf bestimmten Strecken dann mehr oder weniger Busse eingesetzt werden.

In Deutschland ist Bonn-Smart bisher einmalig. Um zu testen, ob sich der Ansatz auch auf andere Verkehrsunternehmen übertragen lässt, bezuschusst das Land Nordrhein-Westfalen das Projekt mit 500 000 Euro. Noch gibt es viele Baustellen: Das kontaktlose Bezahlen ist aktuell auf eine Person begrenzt, Kinder oder Hunde lassen sich nicht dazubuchen. Sobald man die Karte noch einmal vors Lesegerät hält, registriert dies der Computer schließlich als Aussteigen. Auch preislich gibt es noch keinen Anreiz, aufs kontaktlose Bezahlen umzusteigen. So kostet ein über Bonn-Smart gekauftes Ticket drei Euro, genauso viel wie am Automaten oder beim Fahrer. Wer hingegen per App bezahlt, erhält einen Rabatt von zehn Prozent und zahlt nur 2,70 Euro.

Noch sind die Nutzerzahlen niedrig

Ist es dieser feine Unterschied, der die Fahrgäste zögern lässt? Laut den Bonner Stadtwerken werden über Bonn-Smart jedenfalls gerade einmal 1200 bis 1600 Tickets pro Monat verkauft. Zum Vergleich: Aktuell nutzen in der einstigen Bundeshauptstadt knapp fünf Millionen Fahrgäste monatlich den Nahverkehr, in Nicht-Pandemie-Zeiten waren es sogar mal 7,6 Millionen. Woran die Zurückhaltung liegt, darüber können die Beteiligten aktuell nur spekulieren. Ist es die Pandemie? Fehlende Werbung? Oder haben die Kundinnen und Kunden schlicht Angst um ihre Daten? Immerhin lässt sich durch den personalisierten Fahrkartenkauf ein exaktes Bewegungsprofil erstellen.

Die SWB versichern, niemand müsse sich Sorgen machen, ausspioniert zu werden. Die Fahrt- und Bankdaten würden vom Netzbetreiber PayVision verknüpft und von der Automatenfirma Scheidt & Bachmann in Mönchengladbach sicher gespeichert. Im Bus oder in der Straßenbahn würden die Kreditkartendaten verschlüsselt und anonymisiert übertragen. Wer was wie lange und zu welchem Zweck speichert, ist auf den ersten Blick trotzdem nicht ersichtlich.

Die Landesdatenschutzbeauftragte in NRW teilt auf Nachfrage mit, das Projekt zwar zu kennen, aber keine Informationen über den aktuellen Sachstand zu besitzen. Die Stiftung Datenschutz kennt das konkrete Projekt ebenfalls nicht, weist aber darauf hin, dass es vor einigen Jahren erhebliche Probleme bei einem ähnlichen E-Ticket-System in Berlin gab. Der Verein Digitalcourage verlieh den Berliner Verkehrsbetrieben 2016 sogar den Negativpreis " Big Brother Award", nachdem diverse Datenlecks bekannt geworden waren.

Generell rät die Stiftung Datenschutz beim kontaktlosen Bezahlen zur Vorsicht. "Ob man dem Anbieter einer solchen Bezahlmethode vertraut, könnte man davon abhängig machen, ob jener die gebotene Transparenz an den Tag legt", sagt Stiftungsvorstand Frederick Richter. "Ich persönlich würde ein solches System in der ersten Phase vielleicht nicht nutzen, sondern erst einmal abwarten, ob Unsicherheiten beim Datenschutz zutage treten." Aber das sei letztlich immer eine Frage der persönlichen "Risikogeneigtheit".

International existieren durchaus Bezahlsysteme, die ähnlich funktionieren, aber anonym nutzbar sind. So etwa die "Oyster Card" in London. Diese Karte hält man ebenfalls zum Ein- und Auschecken an ein Lesegerät. Zuvor muss man sie allerdings mit einem bestimmten Geldbetrag aufladen - was online möglich ist, aber auch anonym mit Bargeld über einen Automaten. Für die Stadtwerke Bonn kommt ein solches System indes nicht infrage: "Die Leute wollen nicht noch eine weitere Karte im Portemonnaie", sagt Projektleiter Brämer. Genau deshalb sei das Bezahlen per Kredit- oder EC-Karte ja so attraktiv. Die hätten die meisten eh stets dabei.

Werden sich Systeme wie Bonn-Smart also auch in anderen deutschen Städten durchsetzen? Auf diese Frage antwortet der Verband Deutscher Verkehrsunternehmen (VDV) zurückhaltend. "Betrachtet man die Kosten für Installation und Betrieb, muss man sich die Zielgruppen sehr genau anschauen", sagt VDV-Sprecher Daniel Ackers. Rund 70 Prozent der Fahrgeld-Einnahmen stammten derzeit von Dauerkarten-Inhabern. Die restlichen 30 Prozent, sogenannte Gelegenheitskunden, nutzten zunehmend die Apps ihres jeweiligen Verkehrsbetriebs. "Bleibt also nur der eher kleine Teil der Touristen übrig", sagt Ackers. "Oder Personen, die sich keine App installieren möchten." Ob sich das für die Verbünde rechnet, sei ungewiss.

Auch in anderen Städten wird getestet

Hinzu kommt, dass neben der kontaktlosen Kartenzahlung noch diverse andere Alternativen zum Fahrkarten-Automaten existieren - vom digitalen 90-Minuten-Ticket (Münster) über den Ticketkauf via Google Maps (Hamburg) bis hin zum "Luftlinien-Tarif", den aktuell mehrere Verkehrsunternehmen ausprobieren. Auch Bonn ist bei Letzterem dabei, wenngleich Fahrgäste dafür eine weitere App herunterladen müssen. Der VDV betont unterdessen, dass der ÖPNV in Deutschland gesetzlich verpflichtet sei, einen anonymen Ticketkauf anzubieten. "Ob man allerdings für sein Bargeld auch noch ein Papierticket bekommt, ist natürlich eine spannende Frage", so VDV-Sprecher Ackers.

In Bonn hoffen die Stadtwerke, dass sich nach der Testphase auch andere Unternehmen für die neuen Lesegeräte entscheiden. "Unsere Vision ist, dass die Leute irgendwann hier einsteigen und mit einem Ticket bis ins niederländische Roermond fahren können", sagt Projektleiter Brämer. Wann und ob diese Vision jemals wahr wird, kann er nicht sagen. "Da bin ich wahrscheinlich längst in Rente."

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