Süddeutsche Zeitung

Fahrradhändler:Keine freie Minute mehr

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Die Fachgeschäfte hatten sich auf ein mieses Jahr eingestellt, die Verzweiflung war groß. Doch seit der Wiedereröffnung zeigt sich: Die Fahrradhändler werden geradezu überrannt.

Von Steffen Uhlmann, Köln

Georg Honkomp, 59, stöhnt und ist dabei ganz fröhlich. "Wir sind jetzt so sehr belastet, dass wir abends todmüde in die Betten fallen und morgens trotzdem gleich wieder in den Hamsterkäfig steigen", sagt er und witzelt: "Unsere Fahrräder und vor allem die E-Bikes haben scheinbar das Toilettenpapier als Produkt der Begierde abgelöst." Noch vor ein paar Tagen war der Chef der Zweirad-Einkaufs-Genossenschaft (ZEG) ganz anders drauf. "Irre wetterwendisch" seien die Geschäfte in den vergangenen Wochen gelaufen, klagte Honkomp noch Mitte April. Entsprechend düster seien die Geschäftsaussichten der mehr als 1000 Fachhändler und Fahrradbauer, die sich unter dem Dach der ZEG zusammengeschlossen haben - bei Europas größtem Zweirad-Fachhandelsverband.

"Bis Mitte März ging es bei unseren Mitgliedern ordentlich bergauf", sagt Honkomp. "Wir hatten im Handel durchweg Umsatzsteigerungen zwischen sieben und acht Prozent, in etwa so wie im Vorjahr." Mit der fast totalen Stilllegung des Geschäfts- und sozialen Lebens infolge der Corona-Pandemie aber stürzten auch die Erwartungen der ZEG-Mitglieder beinahe ins Bodenlose. "Ab dem 18. März waren auch bei uns fast alle Läden und Werkstätten dicht" sagt Honkomp. "Und damit begann eine noch nie erlebte Talfahrt." Zwischen 20 und 30 Prozent weniger Umsatz hätten die Händler in den ersten April-Wochen gemacht, rechnete er damals nüchtern hoch. Da sei nichts übrig geblieben vom Plus aus den ersten zehn Wochen.

Ähnliche Sorgen treiben auch Albert Herresthal um. Der Geschäftsführer des Verbunds Service und Fahrrad (VSF), dem fast 250 Fachhändler und Industriebetriebe der Fahrradbranche angehören, befürchtet, dass es unter den Fachhändlern viele Insolvenzen geben werde. "Das war und ist ein heftiger Einbruch, den längst nicht alle kapitalschwachen Händler verkraften können", sagt er. "Und auch für viele Produzenten sieht es nicht gut aus. Sie haben im April fast alle ihre Belegschaften in Kurzarbeit schicken müssen." Kurzarbeit hatten auch mehr als 70 Prozent der Fahrradfirmen beantragt, die vom Zweirad-Industrie-Verband (ZIV) vertreten werden. "Die Läger der Händler sind voll", sagt ZIV-Chef Siegfried Neuberger. "Ihr Absatz stockt. Und mit dem Shutdown sind auch noch die meisten Lieferketten gerissen."

Die Stimmung in der Branche kann man also durchaus mit wechselhaft beschreiben. Immerhin hat sie ein starkes Jahr 2019 hinter sich, mit einem deutlichen Absatzzuwachs von mehr als drei Prozent, insgesamt wurden mehr als 4,3 Millionen Fahrräder verkauft. Eindeutiger Wachstumstreiber waren dabei wie in den Jahren zuvor die Pedelecs. Fast 1,4 Millionen E-Bikes wurden verkauft - ein wertmäßiges Plus von beinahe 40 Prozent, während der Absatz bei konventionellen Fahrrädern um fast acht Prozent zurückging.

2019 ist der durchschnittliche Verkaufspreis pro Fahrrad um 30 Prozent gestiegen

Durch den E-Bike-Boom und das gute Geschäft mit Komponenten und Zubehör hat die Branche 2019 fast sieben Milliarden Euro umgesetzt - Tendenz weiter steigend, weil der Boom bei den E-Bikes, bei allen Unwägbarkeiten für 2020, anhält. Von dem geschätzten Fahrradbestand von knapp 76 Millionen Stück sind inzwischen bereits 5,4 Millionen E-Bikes, die längst bei allen Altersgruppen beliebt sind. Überhaupt wandelten sich Fahrräder mehr und mehr vom Freizeitgerät zum Alltagsfahrzeug, so Honkomp. Und offensichtlich auch zu einem Statussymbol, für das die Leute bereit sind, immer tiefer in die Tasche zu greifen. Allein im vergangenen Jahr ist der durchschnittliche Verkaufspreis pro Fahrrad um satte 30 Prozent gestiegen - von reichlich 750 Euro auf nun knapp 1000 Euro.

"Da dreht sich was", sagt Honkomp. In seiner Planung für die ZEG, deren Mitglieder im vergangenen Jahr etwa 1,8 Milliarden Euro umgesetzt haben (plus acht Prozent), stand zum Jahreswechsel für 2020 ein weiteres Plus von zehn bis zwölf Prozent auf dann etwa zwei Milliarden Euro. Ist diese Erwartung - nach dem März-April-Einbruch - Makulatur? "Wenn es in den nächsten Monaten wieder besser läuft, dann kommen wir mit einem blauen Auge davon ", glaubt der ZEG-Chef. Und mit der Entscheidung in den Ländern, auch die Fahrradläden wieder aufzusperren, zeichnete sich in der vergangenen Woche tatsächlich schon eine geschäftliche "Wetterwende" für die Fahrradbauer und Händler seiner Genossenschaft ab.

"Diese Situation haben wir so noch nie erlebt - einfach grandios."

"Die Kunden haben die Läden in den ersten Tagen nach Wiedereröffnung trotz strenger Hygienebestimmungen förmlich überrannt und uns kaum eine freie Minute mehr gelassen", sagt Honkomp und schüttelt den Kopf. "Dabei hatten wir uns doch schon, wohl oder übel, in die von der Politik verordnete Sperrzeit eingerichtet." Gekauft wurde seitdem fast alles an Zweirädern, was in den Verkaufsräumen und Lägern der Händler stand. "Diese Situation haben wir so noch nie erlebt - einfach grandios", freut sich der ZEG-Chef. "Die verlorenen Umsätze sind schon jetzt vielfach wieder ausgeglichen worden."

Mit dem unerwarteten Kundenansturm nach der Wiedereröffnung wächst nun vorsichtiger Optimismus in der gesamten, immer noch stark fragmentierten Branche mit ihren mehr als 5000 Fachhändlern in Deutschland. Das bestätigen auch Herresthal und Neuberger, die sich aber auf keine konkrete Prognose festlegen wollen. Die von der Politik zugesagten Kredite und finanziellen Zuschüsse seien bei den Mitgliedern inzwischen angekommen, sagt Herresthal, "das hilft ungemein". Neuberger wiederum glaubt fest an die "Renaissance des Fahrrads" - trotz der Corona-Krise. Und Honkomp hat registriert, dass sich die zwischenzeitlich unterbrochenen Zulieferketten in Asien wieder verknüpfen. "Die ersten Container-Schiffe aus Asien sind unterwegs", frohlockt der ZEG-Chef. "Von mir aus kann es mit diesem Ansturm in den nächsten Wochen so weitergehen."

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Quelle:
SZ vom 05.05.2020
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