Süddeutsche Zeitung

Zugreise:Die Bahn, ein Wunderwerk

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Einer Frau rutscht ihr Ring vom Finger - und verschwindet zwischen den Sitzen im ICE. Das ganze Abteil sucht mit, Personal rückt an mit schwerem Gerät.

Glosse von Stefan Fischer

Die Deutsche Bahn steckt voller Mirakel - im Großen wie im Kleinen. Mancher hält es schon für ein Wunder, wenn er auf einen freundlichen Zugbegleiter trifft. Damit tut man dem Berufsstand aber Unrecht, hat man es in aller Regel doch mit höflichen, rechtschaffenen Menschen zu tun. Als ein kleines Raum- und Stauwunder entpuppen sich indessen die Sitze in den Waggons, wenn man sie einmal genauer untersucht. So geschehen in einem ICE auf der Fahrt von München nach Berlin.

Einer jungen Frau rutschte ein Ring vom Finger und tauchte in den Tiefen ihres Sitzes ab. Sie begann zu suchen, das dreijährige Mädchen ihr gegenüber krabbelte bald auch unter den Sitz, dessen Mutter half - es nützte alles nichts. Der Ring blieb verschwunden. Der Zugbegleiter, ein zupackender Mann, nahm sich der Sache an.

Er wusste, wo es Schlitze, Ritzen und Taschen gibt, in die ein Schmuckstück rutschen kann. Erste Erkundungen blieben erfolglos. Er zog ab, kehrte wieder mit schwerem Gerät - einer Gabel aus dem Bordbistro. Er grub und stocherte und wühlte. Und fand in dem Sitz: ein Stück Draht, von dem nicht ersichtlich war, ob es einmal zu dem Sitz gehört hatte oder ob früher schon einmal jemand nach einem verlorenen Gegenstand gebohrt hat. Darüber hinaus eine Haarspange, ein Messer und, so der Zugbegleiter: "den Staub von hundert Jahren". Außerdem eine Ein-Euro-Münze. Er solle sie behalten, so die junge Frau, als kleinen Dank. Nein, sie, entgegnete er: als großen Glückspfennig.

Der Ring blieb unauffindbar. Es gebe noch weitere Verstecke, so der Zugbegleiter, um an die heranzukommen, müsse man aber den Sitz ausbauen. Er klang überzeugt, dass jemand sich diese Mühe machen würde.

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Quelle:
SZ vom 28.12.2019
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