Süddeutsche Zeitung

Bahn-Historie:Auf Zeitreise mit Reto

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Bei der Rhätischen Bahn erklären seit Kurzem Schauspieler die Geschichte der Albula-Linie, die zum Weltkuturerbe zählt.

Von Marco Völklein

Kurz nachdem der Zug den Bahnhof Thusis verlassen hat, steht er plötzlich im Waggon. Dunkler Anzug, sauber gestutzter Bart, gestärktes Hemd, korrekt gebundene Krawatte. Er spricht in leisem Ton, fast schüchtern berichtet er von seinem Projekt. Wie es war, damals von 1898 bis 1903, als er und seine Kollegen die Bahnstrecke zwischen die Riesen der Alpen quetschten. Wie die Arbeiter immer wieder mit Lawinen und Erdrutschen zu kämpfen hatten. Und warum sie beim Lochtobelviadukt die Pfeiler 16 Meter tief in der Erde verankern mussten. "Schauen Sie ruhig aus dem Fenster", sagt der Oberingenieur Friedrich Hennings zwischendrin, "meine Person ist nicht so wichtig." Wichtig ist eigentlich nur sein Werk, die Albula-Linie.

Natürlich steht hier nicht Friedrich Hennings selbst in einem historischen Wagon der Rhätischen Bahn. Der Ingenieur, im Dezember 1838 in Kiel geboren, starb im Februar 1922 in der Nähe von Wiesbaden. Hier steht ein Schauspieler, der die etwa 20 Teilnehmer mitnimmt auf eine historische Zeitreise zu den Anfängen der Bahnstrecke, die von Graubünden ins Engadin führt. Die Trasse ist eine von weltweit drei Strecken, die von der Unesco als Weltkulturerbe geführt wird. Bei der Rhätischen Bahn sind sie mehr als stolz darauf und versuchen, Kapital daraus zu schlagen. Es gibt Fahrten für Dampfzugfans auf der geschichtsträchtigen Schmalspurbahn. Der Glacier-Express und er Bernina-Express fahren mit Panoramawagen die Trasse ab. Und seit diesem Sommer führt ein Schauspieler Besucher über die Strecke.

An diesem Mittwoch schlüpft Fabrizio Daniele in die diversen Rollen. Am Bahnhof in Chur nimmt er die Besucher als Gleismonteur Reto - gekleidet in orangefarbener Arbeitermontur und bewaffnet mit einem Klemmbrett - in Empfang. Später dann tritt er unter anderem als italienischer Gastarbeiter aus der Zeit um die Jahrhundertwende auf und nimmt die Besucher mit zum 65 Meter hohen Landwasserviadukt, dem Wahrzeichen der Albula-Strecke, der in einem engen Bogen verläuft und auf der gegenüberliegenden Felswand in einen Tunnel mündet. Und nach dem Mittagessen erläutert er als Oberzugführer die Kehrtunnels und Viadukte.

Tatsächlich haben Oberingenieur Hennings und seine Leute damals eine bahntechnische Meisterleistung vollbracht: Um die Höhendifferenz von mehr als 400 Metern zwischen den Bahnhöfen Bergün und Preda ohne allzu große Steigungen zu überwinden, mussten sie die Strecke mit zahlreichen Bauwerken auf zwölf Kilometer verlängern. Luftlinie liegen die beiden Orte nur etwas mehr als sechs Kilometer auseinander. Hennings Arbeiter schlugen also Spiral- und Kehrtunnel in die Berge und querten mit Viadukten allein in dem Abschnitt vier Mal das teils tief eingeschnittene Tal der Albula. Wegen der vielen Kunstbauten überquert die Strecke zweimal sich selbst. Und hinter Preda durchfährt der Zug schließlich noch den fast sechs Kilometer langen Albulatunnel.

All das kann man natürlich auch erfahren bei einem Besuch im Bahnmuseum in Bergün oder auf den Tafeln nachlesen, die am 20 Kilometer langen Wanderweg entlang der Strecke stehen. Und natürlich tauchen der von Daniele dargestellte Oberingenieur Hennings oder der Gleismonteur Reto nicht ganz so tief ein in die Historie der Strecke und des Bahnbetriebs, wie es vielleicht manchem Bahnfan lieb ist. Mit 58 Franken (zuzüglich Ticket der Rhätischen Bahn) hat die fünfstündige Tour zudem einen stolzen Preis. Die Teilnehmer an diesem Mittwoch sind dennoch begeistert: "Das macht er gut", sagt eine Frau über Daniele. Und ein Herr ergänzt, er höre lieber dem Schauspieler und seinen Geschichten zu als einem Führer, der zwar viele Fakten liefere, "es aber nicht schafft, die Lebensumstände von damals zu transportieren". Denn auch die werden deutlich: Der italienische Gastarbeiter Reto etwa pfeift während des Fußmarschs zum Landwasserviadukt die Internationale. Danach geht einem das Arbeiterlied nicht mehr aus dem Kopf.

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SZ vom 19.08.2017
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