Süddeutsche Zeitung

Autonomes Fahren:Tindern in der Autobranche

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Autos werden zu rollenden Computern, aber dafür ist mehr Software-Kompetenz nötig. Mercedes und Volkswagen sprechen zwar von eigenen Betriebssystemen. Auf dem Weg dahin beschreiten sie aber unterschiedliche Wege.

Von Joachim Becker

Wisch und weg - mit Fingergesten einen Flirt anbahnen oder abmoderieren. Gäbe es so eine Partnerbörse für das autonome Fahren, wäre Daimler wohl Vielnutzer: Ein Stelldichein mit Bosch im Robotertaxi? Zu viel schwäbische Hausfrau, zu wenig Sex-Appeal. Selbst die alte Hassliebe mit BMW hätte höchstens zur Vernunftehe gereicht. Alles schon wieder Geschichte. Mit Schwung geht das Partnerkarussel in die nächste Runde.

Jetzt hat Daimler die große Liebe in Kalifornien gefunden: Sonne, Strand und Software satt. Der Halbleiterhersteller Nvidia bietet einen ganzen Elektronik-Baukasten inklusive Simulations-Werkzeugen an. Vom Lenk- und Bremsassistenten (Level 2) bis zum fahrerlosen Parken (Level 4) ist alles dabei. Vorbild ist Teslas Supercomputer für 144 Billionen Rechenoperationen pro Sekunde. Weil jeder Neuwagen damit vom Band läuft, können Ende des Jahres mehr als eine halbe Million Fahrzeuge per Software-Update für das autonome Fahren freigeschaltet werden. Diese Ankündigung kommt zur Unzeit für die Wettbewerber. In der Krise fehlt vielen das Geld, um vergleichbare Software-Kompetenzen aufzubauen.

Daher läuft die Partnerbörse auf Hochtouren. Daimler und Volkswagen reden zwar von eigenen Betriebssystemen. Doch das Entwicklungstempo der Computerbranche erreichen sie nicht. Also ist mal wieder Nachhilfe aus dem Silicon Valley gefragt. Ab 2024 will Daimler alle neuen Modelle sukzessive mit einem Nvidia-Leitrechner ausstatten. Das automatisierte Fahren lässt sich damit in jeder Klasse auch nachträglich freischalten. Ein vergleichbares Zentralhirn schwebt auch dem neuen Audi-Vorstands- und Entwicklungschef Markus Duesmann vor. Bis 2024 soll im Projekt Artemis eine Computing-Plattform auf Rädern entstehen. Ob das ohne Tindern in der Tech-Branche gelingt?

Gespannt wartet die automobile Community jetzt darauf, was der neue BMW-Chef Oliver Zipse entscheiden wird. Die Münchner wollen nächstes Jahr mit dem BMW i4 eine innovative Computer-Plattform vorstellen. Doch beim autonomen Fahren geht selbst dem Vorreiter Google/Waymo das Geld aus. Mit den Besten aus der Software-Branche mitzuhalten, wird zur größten Herausforderung in der Automobilgeschichte. Eine Zeit lang lässt sich Zukunftsfähigkeit simulieren. So wie es die Deutschen mit vielen Elektromodellen gemacht haben: Einfach alte Verbrenner-Architekturen auf Batterieantrieb ummodeln. Wohl wissend, dass sich mit solchen handgefertigten Elektro-Zwittern kein Geld verdienen lässt. So ähnlich könnte der digitale Fortschritt aussehen: Mit Bordnetzen, die so zerklüftet sind, dass jede Weiterentwicklung durch 80 Steuergeräte unendlich langsam und teuer wird.

Ohne Tech-Tindern geht es also nicht. Das Problem ist nur: Auch die neuen Partner müssen nicht treu sein. Nvidia ist eine offene Computer-Plattform für jedermann. Ab 2024 werden die Deutschen also auf dem Software-Stand von chinesischen Start-ups wie Faraday Future sein, die ebenfalls mit Nvidia zusammenarbeiten. Freie Liebe sozusagen. Natürlich haben die jungen Marken weniger Kompetenz in der Holz- und Lederverarbeitung. Doch das lässt sich auf dem Weg in die digitale Zukunft womöglich verschmerzen.

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Quelle:
SZ vom 27.06.2020
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