Süddeutsche Zeitung

Autoland Indien (9):Stau der Eitelkeiten

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Die Menschen in Indiens Hauptstadt Delhi leiden unter den permanenten Straßensperrungen - im Auftrag der Reichen und Wichtigen.

Oliver Meiler

Es gibt diese Momente in Delhi, da verfluchen Indiens Hauptstädter, dass sie Hauptstädter sind. Und diese Momente kommen recht oft vor, eigentlich täglich, manchmal mehrmals täglich. Dann bauen sich Polizisten an den Kreuzungen im Zentrum der Stadt auf und errichten mit schnellen Handgriffen Straßensperren.

Plötzlich stehen am Straßenrand Hunderte Beamte in khakifarbenen Uniformen und drohen mit ihren Holzstöcken und weit aufgerissenen Augen den Verkehrsteilnehmern. Und dann müssen alle Fahrräder, alle Autos und alle Mopeds anhalten und warten - bis ein von bewaffneten Begleittrossen eskortierter Konvoi mit Parlamentariern, hohen Parteifunktionären oder Ministern vorbeigelassen wurde. Bei Staatsbesuchen verdoppelt sich der Kordon auch schon mal, zeitlich und personell, und zieht sich bis zur Gedenkstätte für Mahatma Gandhi, einem obligatorischen Programmpunkt für jeden Gast.

"VIP-Kultur" nennt sich das Phänomen

Manchmal stoppt die Polizei den Verkehr auch nur für einen Cricket-Star, für den Chefredakteur einer wichtigen Zeitung oder für einen Liebling aus Bollywood. "VIP-Kultur" nennt sich das Phänomen. Allen Nichtprominenten geht das natürlich mächtig auf die Nerven. Allein 9000 Beamte sorgen in Delhi für das zügige und sichere Vorankommen von 391 Politikern, mag deren Reise auch gänzlich privater Natur sein.

Das ist ein beträchtliches Heer von Stauadministratoren. Die große Stadt mit ihren zwölf Millionen Einwohnern hat ja ohnehin Mühe, die immer zahlreicher werdenden Autos zu verkraften. Und dann noch die VIP-Staus - schon kommt der Nicht-VIP wieder einmal zu spät zur Arbeit, verpasst einen wichtigen Termin oder leidet unter Hitze und Abgasen.

Unlängst gebar eine schwangere Frau ihr Baby auf dem Weg ins Krankenhaus in einem Taxi, das von einer VIP-Sperre blockiert war. Da hagelte es empörte Schlagzeilen. Und nachdem dann auch noch ein Verfassungsrichter, der zu Fuß und inkognito unterwegs war, von einem Beamten barsch aufgefordert wurde, sich von der Straße abzuwenden, damit er nicht sehe, wer gerade vorbeifuhr, lag Delhis Hohem Gericht bald eine Petition gegen die Vip-Kultur vor. Eingebracht von aufgebrachten Bürgern, die das Gericht um ein Statement baten. Und das taten die Richter mit folgender, nur halb ironisch gemeinten, wohl aber sehr populären Ermahnung an die Adresse der politischen Klasse: "Politische Führer", hieß es darin, "die sich vor ihren Bürgern fürchten, sollten sich besser in ihren Villen und Büros verstecken."

Die Eskorte als Statussymbol für Hinterbänkler

Die Regierung reagierte pikiert. Man sei durchaus bemüht, stand in der offiziellen Stellungsnahme, die Unannehmlichkeiten einzuschränken. Nur sei es halt so, dass die Sicherheitsvorkehrungen den Gefahren angepasst seien, welche den Würdenträgern drohten. Man stütze sich auf Informationen der Geheimdienste.

Doch allein bei den großen und mächtigen Politikern hat das Volk Verständnis: bei der Präsidentin, beim Premierminister und bei Sonia Gandhi, der Vorsitzenden der regierenden Kongresspartei etwa. Gerade die Saga der Gandhis, Indiens größter Politdynastie, ist ja in tragischem Maß von Gewalt und Tod gezeichnet. Der Ärger im Volk richtet sich vor allem gegen Hinterbänkler mit großen Allüren. Sie stehen im Verdacht, die Eskorte als Statussymbol zu missbrauchen und damit ihr Ego zu nähren. Für sie ist die Gegend um Janpath, eine der Paradestraßen im Zentrum Delhis, ein Laufsteg der Eitelkeiten. So zumindest sehen es die staumüden Hauptstädter. Janpath heißt übrigens "Pfad des Volkes".

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SZ vom 28.5.2008/gf
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