Zweifelhafte Therapie:Krebsstudie in der Grauzone

In Göttingen wurden weit mehr Patienten mit einer umstrittenen Tumorimpfung behandelt als bisher bekannt - ganz "individuell".

Holger Wormer

(SZ vom 24.07.2001) - Für ihren krebskranken Schwiegervater schien es die letzte Chance zu sein: Durch optimistische Berichte hatte Mechtild R., selbst Ärztin, von der Immuntherapie an der Uniklinik Göttingen erfahren. Im Januar 2001 stellte sie den Schwiegervater bei Gerhard Müller vor - einem jener Professoren, die eine Impfung gegen Nierenkrebs erproben, die nun in die Kritik geraten ist (SZ, 3.7. 2001).

Wie die Ärztin eidesstattlich versichert, habe Müller den Kranken zunächst ohne Untersuchung in seine Studie aufgenommen und für die Beratung eine Privatrechnung ausgestellt. Kurz darauf wurde dem Schwiegervater eine Metastase der Lunge entfernt, aus der im Labor Impfstoff hergestellt werden sollte.

Erfolge seien unerklärlich zurückgegangen

Die erste Impfung, so das Versprechen, werde nach circa drei Wochen möglich sein. Tatsächlich vergingen fast vier Monate; zuvor hatten sich die Angehörigen beim Wissenschaftsministerium beschwert. Immerhin hatten sie auf andere Therapien verzichtet und ganz auf die Göttinger Methode gesetzt. Begründet wurde die Verzögerung immer wieder anders, so die Angehörigen.

Am 11. April erläuterte ein Arzt, die ersten Erfolge der Therapie, die bei 30 Prozent gelegen hätten, seien unerklärlich zurückgegangen. Mit der Firma Fresenius solle der Impfstoff aber verbessert werden.

Die Angehörigen und der inzwischen verstorbene Patient hatten geglaubt, man würde an einer Studie teilnehmen. Über eine laufende "Studie" im eigentlichen Sinn war die zuständige Behörde, die Bezirksregierung Braunschweig, trotz Meldepflicht aber nie informiert worden.

Individuelle Heilversuche

Auch Medizin- Dekan Manfred Droese bestätigt: "Durch die Ethik-Kommission ist zwar eine Studie genehmigt, die hat aber nie begonnen." Gerhard Müller selbst kann sich nicht erklären, wieso Patienten glaubten, sie nähmen an einer Studie teil. Zu Zeitverzögerungen sei es wegen des großen Interesses gekommen. Zudem habe man besonders sorgfältig gehandelt, nachdem erste Zweifel an der Methode aufgekommen waren.

Offiziell gab es weder in Müllers Abteilung noch in der seines Kollegen Rolf-Hermann Ringert eine echte klinische Studie zur Behandlung von Nierenzellkrebs. Statt dessen machten die Ärzte und ihre Mitarbeiter so genannte individuelle Heilversuche. Einige davon wurden ausgewertet und in Fachzeitschriften wie Nature Medicine veröffentlicht.

Generell gilt die Aussagekraft nachträglich zusammengezimmerter Forschungsarbeiten als gering. Umgekehrt ist fraglich, wann Heilversuche noch als "individuell" anzusehen sind. Immerhin liegt die Zahl der in Göttingen Behandelten nach jüngster Auskunft des Dekans bei rund 400 - etwa 70 davon wurden in der Abteilung Müller, die übrigen bei seinem Kollegen Ringert behandelt.

Von 400 Patienten war bei der Bezirksregierung in Braunschweig bis zur letzten Woche nichts bekannt. Nach Ansicht der Behörde könnte aber selbst eine solche Zahl noch als "individueller" Heilversuch gelten - und im Rahmen jener Grauzone liegen, die das Gesetz zulasse. Wenn solche Therapien von vornherein stark wissenschaftlich angelegt seien, könne man dagegen oft schon bei wenigen Patienten von einer Art klinischen Prüfung sprechen, die meldepflichtig ist.

Klarer Verstoß

Bei einem Besuch der Uni-Labors fanden die Behörden aber einen klaren Verstoß: "Dabei haben wir festgestellt, dass die Art der Impfstoff-Herstellung nicht so stattfand, wie das vorgeschrieben wäre", so ein Sprecher der Bezirksregierung. Denn bei einem individuellen Heilversuch muss die Person, die die Arznei zubereitet, auch den Patienten behandeln. Das war in Göttingen nicht immer der Fall, worauf die Universität am 12.Juli hingewiesen wurde.

Fachleute warnen indes längst: "Die klinische Forschung tritt trotz aller experimentellen Fortschritte auf der Stelle - auch, weil Reputationsbemühungen von Ärzten, die außerhalb der mühsam geschaffenen Regeln zur Durchführung von Studien eine eigene 'klinische Forschung' betreiben, kontraproduktiv sind", so Lothar Weißbach, ehemals Präsident der Deutschen Krebsgesellschaft, zu Forschungen am Nierenzellkrebs (Dt.Ärzteblatt, S.A2780, Nr. 42, 2000).

In Göttingen prüft man nun, ob die angegebenen Heilungsraten aus einer in die Kritik geratenen Nature Medicine-Arbeit auf soliden Daten beruhen. Wegen Vorwürfen der Befangenheit gegen einzelne Mitglieder eines ersten Untersuchungsgremiums soll nun eine Kommission auf Universitätsebene der Frage nachgehen - zusammen mit externen Gutachtern.

Misstrauisch ist man in Göttingen gegenüber dem Tübinger Mitautor Gernot Stuhler. Dieser hatte eine Abbildung aus dem Internet besorgt, die im Manuskript für eine Publikation in der Zeitschrift Critical Reviews in Immunology mit seinem Kollegen Alexander Kugler sowie in Kuglers Habilitationsschrift auftauchte. Bis heute, heißt es in Göttingen, habe Stuhler ein Gesprächsprotokoll zu dem Vorgang nicht unterschrieben.

An der Realität vorbei

In Tübingen betrachtet man die Sache als abgeschlossen, obwohl bei fragwürdigen Arbeiten Tübinger Ärzte Mitautoren sind. Der Teil, der Tübingen betreffe, sei für korrekt befunden worden, sagt Medizin-Dekan Claus Claussen. Eine Mitverantwortung von Mitautoren für die gesamte Arbeit - als gute wissenschaftliche Praxis bekannt - gehe "ein bisschen an der Realität vorbei", glaubt Claussen.

In Göttingen werden indes keine neuen Patienten in die "klinische Studie" aufgenommen, von der man auf der Homepage von Ringerts Abteilung lesen kann. Am Patiententelefon erfährt man, es sei nicht sicher, ob vielleicht in fünf Monaten eine neue Studie begonnen werden könne. Den Grund für den Stopp der Studie, die offiziell gar keine ist, erfährt der Anrufer nicht.

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