Zum Tod von Stephen Hawking:Supergenieorakel mit Showtalent

Der britische Astrophysiker war eine Projektionsfläche für die Sehnsucht nach Übermenschlichem - und der einzige globale Popstar der Wissenschaft. Ein Nachruf.

Von Patrick Illinger

Was für ein genialer Titel. "Kurz", also handhabbar, dazu eine "Geschichte", also spannend und womöglich historisch. Und als Thema die "Zeit", die wohl wertvollste Ressource im Leben jedes Menschen. "Eine kurze Geschichte der Zeit", verfasst von Stephen Hawking, wurde eines der erfolgreichsten Bücher der Welt, zweifellos auch dank des Titels.

Hinzu kam eine geniale Formel des Autors, keine physikalische Gleichung, aber umso gewinnbringender. Sie lautete: Jede mathematische Gleichung halbiert die Zahl der Leser. Also gab es keine Formeln in der kurzen Geschichte der Zeit. Das dritte Element des Erfolgs war der Autor selbst: Gefesselt in einem schwindenden, zunehmend leblosen Körper schien hier ein allen irdischen Niederungen enthobenes Genie seine womöglich letzten Einsichten zu verbreiten.

Übrigens ohne ein "s" am Ende des Nachnamens

Millionen Menschen in aller Welt sehnten sich danach, von dieser Geistesnahrung etwas abzubekommen. Ob das Buch am Ende häufiger gekauft als gelesen und letztlich auch verstanden wurde, blieb stets umstritten. Zweifellos hat es jedoch den Autor und bis dahin leidlich bekannten Cambridge-Physiker Stephen Hawking (übrigens ohne ein "s" am Ende des Nachnamens, das ihm im deutschen Sprachraum viele andichten) in die höchsten Sphären der Popkultur katapultiert.

Stephen Hawking wurde zur Projektionsfläche der urmenschlichen Sehnsucht nach Superlativen und Übermenschlichem. Die Ikonifizierung erreichte absurde, mit seiner durchaus beachtlichen, aber nicht unübertroffenen wissenschaftlichen Leistung nicht mehr begründbare Ausmaße. Als die Universität Cambridge im vergangenen Jahr seine Doktorarbeit zum Download anbot, brachen die Server der Universität zusammen. Das "Jahrhundertgenie" (Der Spiegel), der "Master of the Universe" (BBC), dem man zutraute, "die Formel Gottes" (Focus) zu finden, hatte indes selbst nie Probleme mit der Rolle eines Superstars. Im Gegenteil, sie brachte vor allem eine weitere geniale Begabung des Physikers Stephen Hawking zutage. Er hatte ausgeprägtes Showtalent.

Das mag nun seltsam klingen, angesichts seiner Krankheit, einer amyotrophen Lateralsklerose (ALS), die ihn im ungewöhnlich frühen Alter von 21 Jahren traf. Meist wird dieses seltene, unheilbare Leiden im höheren Alter diagnostiziert. Nervenzellen, die im Gehirn und Rückenmark die Muskeln steuern, gehen dabei zugrunde. Irgendwann trifft es auch die Atemmuskulatur, und der Tod ist unausweichlich. Hawkings Erkrankung erwies sich als seltene Sonderform von ALS, die nur langsam voranschreitet.

Obwohl sein Körper irgendwann dem eines "Holocaust-Opfers" ähnelte, wie es seine erste Frau Jane beschrieb, ließ sich der Physiker nie seine Lebenslust nehmen. Er führte zwei Ehen, bekam drei Kinder und ein Enkelkind. Die Farbe seiner Autos war ihm ebenso wichtig, wie nach einem Vortragsprogramm um drei Uhr nachts Champagner zu trinken und mit seinem Rollstuhl auf der Tanzfläche herumzukurven. Hawking verstand es zeitlebens meisterhaft, seine Berühmtheit zu pflegen und neu zu entfachen, was ihm mitunter den Neid seiner Fachkollegen einbrachte (ja, so können Physiker sein, wenn sie nicht gerade über den Kosmos nachdenken), die teils zu Recht beanspruchten, mehr zum Fortschritt der Wissenschaft beigetragen zu haben als der Popstar im Rollstuhl.

Doch sie alle profitierten von dem Flutlicht, das auf Hawking strahlte, so hell, dass es auch ihr mitunter dröges Fachgebiet, die theoretische Physik, zum Leuchten brachte. Das ist umso erstaunlicher, als die Physik im Begriff ist, sich in ihren multidimensionalen String- und Superstringtheorien heillos zu verheddern und in ein esoterisches Abseits zu rutschen.

Um die Physik wie auch sich selbst in den Schlagzeilen zu halten, entwickelte Hawking ein enormes Talent für Dramaturgie. Da waren zum Beispiel die Aufsehen erregenden Wetten mit dem Astrophysiker Kip Thorne, der 2017 den Nobelpreis gewann. Im Grunde ging es um absurdes, weltfremdes Zeug. Eine der Fragen war, ob Information erhalten bleibt, nachdem sie von einem Schwarzen Loch verschlungen wurde. Diese hochtheoretische, tief in der Quantenmechanik verwurzelte Frage schaffte es in die Hauptnachrichten, als Hawking kamerawirksam den Wetteinsatz übergab - einmal ein Penthouse-Abonnement, ein andermal eine Baseball-Enzyklopädie.

Anders als es Filme wie "Interstellar" glauben machen, wird niemals ein Mensch etwas in ein Schwarzes Loch senden, um es danach wieder zu empfangen. Zumal diese kosmischen Objekte bislang nur ein mathematisches Konstrukt sind. Zwar gehört auch das Gedankenexperiment zum Standardwerkzeug der Physik, so begann einst auch Einsteins Relativitätstheorie. Aber in Hawkings Beschreibungen haben Schwarze Löcher plötzlich Haare und wirken wie gute Bekannte.

Keinerlei Hemmungen, allerlei Themen zu kommentieren

Die Popularisierung tat seiner Strahlkraft in Fachzirkeln keinen Abbruch. Egal wo Stephen Hawking auftrat, ob bei der Nasa oder im Auditorium des Teilchenbeschleuniger-Zentrums CERN, die Säle waren voll. Seit einem Luftröhrenschnitt im Jahr 1985 konnte er nicht mehr selbst sprechen. Nahestehende lernten zwar, sein Gemurmel zu entschlüsseln, aber in der Öffentlichkeit benutzte Hawking einen Sprachcomputer, den er in den ersten Jahren mit einem Griffel bediente, und später, als auch seine Arme und Hände versagten, mit Augenbewegungen.

Seine Vorträge kamen vom Band, mühsam eingetippt. In den 1990er-Jahren war es äußerst anstrengend, der synthetischen Stimme seines Sprachcomputers zu folgen. Siri und Alexa, die heutigen Sprachgeneratoren von Apple und Amazon, waren noch lange nicht erfunden. Doch wer die Geduld aufbrachte, konnte nicht nur einiges über Schwarze Löcher lernen, sondern auch den überaus erfrischenden und nicht selten selbstironischen Witz des berühmten Physikers spüren. Und waren es nicht schon in der Antike die schwer interpretierbaren Orakel, denen man die größte Bedeutung zuwies?

Er sitze zwar auf Newtons Lehrstuhl, scherzte er einmal, doch sei dieser Stuhl inzwischen reichlich elektrifiziert. Dieser Humor machte Stephen Hawking zur personifizierten Big Bang Theory, lange bevor es die gleichnamige TV-Serie gab. Und als es sie gab, bekam Hawking einen Gastauftritt. In der Szene fällt Obernerd Sheldon in Ohnmacht, weil das Obergenie Hawking ihm einen Fehler nachweist. Zuvor war Hawking bei "Star Trek" aufgetreten, wo er mit Newton, Einstein und Data, dem Offizier des Raumschiffs USS Enterprise, Poker spielt. Die Idee dafür kam, was sonst, von Hawking selbst. Mehrmals trat er auch bei den "Simpsons" in Erscheinung. Nur sein Wunsch, einmal den Bösewicht bei James Bond zu geben, erfüllte sich nicht.

Mindestens so ausgeprägt wie sein Showtalent war Hawkings Bewegungsdrang. Er liebte Verkehrsmittel jeder Art und war zeitlebens stolz darauf, in einem Heißluftballon und einem U-Boot unterwegs gewesen zu sein. Er bereiste Dutzende Länder, alleine sieben Mal die einstige Sowjetunion. Sein oft spontanes Verlangen aufzubrechen, verlangte seiner Frau, seinen Assistenten und den allgegenwärtigen Krankenschwestern viel ab. 2007, als praktisch kein Muskel seines Körpers mehr funktionierte, ließ er sich sogar an Bord eines Experimentalflugzeugs bringen, um sich im Sturzflug einige Minuten lang der Schwerelosigkeit anzuvertrauen. Unnötig zu sagen, dass die Bilder um die Welt gingen, nicht nur auf Wissenschaftsseiten.

So wie sich Hollywood-Stars zur Politik äußern, hatte auch der Physiker Hawking keinerlei Hemmungen, allerlei Themen zu kommentieren, Genetik zum Beispiel, von der er kaum mehr verstand als jeder aufmerksame Zeitungsleser. Doch Hawking war eben Hawking. Das Supergenieorakel.

Einen "Imperator" nannte ihn Jane später in ihrer Biografie

Die heutige Menschheit verglich Stephen Hawking oft mit den Europäern vor Kolumbus, nicht zuletzt, um für Finanzmittel in der Großforschung zu werben. Dabei ging es ihm nicht nur um Teilchenbeschleuniger und Teleskope. Er malte auch dystopische Zukunftsszenarien im Angesicht überhand nehmender Computerintelligenz und riet dazu, die Erde zu verlassen, um neue Lebensräume auf fernen Planetensystemen erkunden. Hawking war überzeugt, dass es in anderen Winkeln des Universums Leben gebe. Nur nicht unbedingt intelligentes Leben. Es war eine schelmische Reminiszenz an Albert Einstein, der einst daran zweifelte, dass es auf der Erde intelligentes Leben gebe.

Tatsächlich verbanden ihn mit Einstein sowohl mittelmäßige Leistungen in der Schule als auch ein schwieriges Eheleben. Seine erste Frau Jane verließ er nach 25 Jahren, um eine seiner Krankenschwestern zu ehelichen. Einen "Imperator" nannte ihn Jane später in ihrer Biografie. Und Elaine, die zweite Frau, geriet zeitweise in den Verdacht, ihn körperlich zu misshandeln, was er allerdings stets verneinte.

Die Physik betreffend, war es am Ende jedoch nicht Hawkings größtes Verdienst, so wie Albert Einstein den Erkenntnishorizont der Menschheit um eine Dimension erweitert zu haben. Hawkings große und bleibende Leistung war es, mit Hingabe und Geduld bei seinen meist deutlich weniger gebildeten Gesprächspartnern eine Faszination für Physik und Wissenschaft zu entfachen. Dafür gebührt ihm aller Respekt.

1963, als seine Krankheit ausbrach, gaben ihm die Ärzte noch drei Jahre zu leben. Daraus wurden 55 weitere Lebensjahre. Eine erfüllte Zeit, wie man seiner 2013 erschienenen Autobiografie entnehmen kann: "Heute (...) kann ich gelassen auf mein Leben zurückblicken und zufrieden sein." Am Mittwoch ist Stephen Hawking im Alter von 76 Jahren verstorben.

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