Süddeutsche Zeitung

Zoologie:Mord im Mutterleib

Die Männchen vieler Tierarten töten den Nachwuchs ihrer Rivalen - mitunter sogar Ungeborene. Forscher rätseln über die Gründe dieses Verhaltens.

Von Katrin Blawat

Was genau geschehen war? Niemand hatte etwas gesehen, doch denkbar ist vieles: Im Genick packen und heftig schütteln, die imposanten Eckzähne ins Fleisch hauen - Pavianmännchen haben diverse Möglichkeiten, die deutlich kleineren Weibchen aus ihrer Gruppe zu attackieren. Häufig sind es schwangere Tiere, die angegriffen werden. Ziel des Männchens ist dabei oft gar nicht das Weibchen, sondern das Ungeborene in seinem Bauch. Der Fötus soll derart schwer verletzt werden, dass er stirbt.

Von etwa einem Dutzend mutmaßlicher Fälle von Fetozid unter Pavianen berichtet ein Team um Matthew Zipple von der Duke University in North Carolina in der aktuellen Ausgabe der Proceedings B der Royal Society (online). Die Forscher haben die Tötungen zwar nicht direkt beobachtet. Doch anhand von Fellfärbung und Genital-Schwellung der Weibchen lasse sich eine Trächtigkeit und deren Ende bei den von ihnen beobachteten Tieren zuverlässig feststellen, versichern die Autoren. Außerdem dokumentierten sie in einigen Paviangruppen eine ungewöhnliche Häufung von Todesfällen unter Jungtieren, die höchstens ein Jahr alt waren. Infantizid, vermutlich ebenfalls durch ein Männchen, lautet ihre Ferndiagnose.

Die Männchen haben leichtes Spiel: Sie sind deutlich größer als die Weibchen

So grausam diese Ereignisse sind, so vorhersehbar waren sie für die Wissenschaftler. Zu zweien der von ihnen dokumentierten Kindstötungen kam es, kurze Zeit nachdem ein fremdes Männchen einen oberen Platz in der Rangordnung einer Gruppe erobert hatte. Durch Kontrollanalysen schlossen die Forscher weitgehend aus, dass die Todesfälle schlicht auf Zufall oder Umweltfaktoren beruhten. Dabei stützten sie sich auf detaillierte Beobachtungen mehrerer Paviangruppen im Amboseli-Nationalpark in Kenia zwischen den Jahren 1978 und 2015.

"Das ist eine großartige Studie", sagt die Evolutionsökologin Elise Huchard von der Université de Montpellier. "Nur sehr wenige Beobachtungsorte bieten einen so großen Datensatz, wie es ihn für solche Forschung braucht." Auch Peter Kappeler, Soziobiologe am Deutschen Primatenzentrum in Göttingen, hält die Daten "trotz eines kleinen Fragezeichens wegen der fehlenden direkten Beweise für sehr verlässlich".

Beide Wissenschaftler haben wie die Autoren der aktuellen Studie zu einer aus menschlicher Sicht grausamen Erkenntnis beigetragen: Quer durchs Tierreich, unter Vögeln und Nagern ebenso wie etwa unter Bären, Löwen, Pferden, einigen Walen und vor allem Primaten, töten Männchen Un- und Neugeborene der eigenen Art. Und zwar nicht nur hin und wieder als Ausrutscher, sondern je nach Spezies und Situation auch in großem Ausmaß. So gingen in einer Paviangruppe in Botswana 38 Prozent aller Todesfälle von Jungtieren auf Infantizid zurück. Bei Löwen in der Serengeti war Infantizid in einer älteren Studie sogar für jeden Todesfall von Jungtieren unter neun Monaten die Ursache.

Wie kann das sein? Wendet sich da die Natur gegen sich selbst? Oder handelt es sich - das wäre vielleicht noch die am leichtesten zu akzeptierende Antwort - um eine krankhafte Absonderlichkeit, gefördert womöglich durch den Menschen, der den Tieren wieder mal auf ungute Weise hineingepfuscht hat? Das postulierten in den 1970er-Jahren einige Forscher, als erstmals Infantizid bei den in indischen Tempelanlagen lebenden Languren - das sind Primaten mit langem Schwanz - beobachtet wurde. Mittlerweile aber zeigt eine Fülle an Daten: Auch im Freiland töten Männchen einiger Arten Jungtiere. Bei 54 Primaten-Spezies, darunter auch Schimpansen, wurde Infantizid dokumentiert. Fetozid lässt sich schwieriger untersuchen; die Datenlage sei daher dünner, doch vermutlich sei das Töten von Ungeborenen weiter verbreitet als bislang bekannt, schreibt das Team um Zipple.

Eine Sonderform des Fetozids haben Forscher bereits besser untersucht: den "Bruce-Effekt", der zum Beispiel Mäuseföten sterben lässt. Anders als unter Pavianen, bei denen das Ungeborene - und im Extremfall auch seine Mutter - aufgrund von körperlichen Verletzungen stirbt, bringen beim Bruce-Effekt spezielle Duftmoleküle im Urin des Männchens die Mäuseweibchen dazu, ihre Trächtigkeit zu beenden. So trifft der Bruce-Effekt, anders als der Fetozid der Paviane, alle trächtigen Weibchen einer Gruppe. Außer in Mäusegruppen tritt der Bruce-Effekt auch bei Pferden auf.

Dass ein Männchen hingegen gezielt einen nicht mit ihm verwandten Fötus oder ein Neugeborenes attackiert, dieses Verhalten findet sich auffällig häufig bei Primaten. Ein Grund dafür liegt im deutlichen Größenvorteil der Männchen gegenüber den Weibchen. Wichtiger aber ist die "langsame Lebenslaufstrategie", wie der Göttinger Biologe Kappeler sagt. Primaten werden oft einzeln geboren und entwickeln sich sowohl im Mutterleib als auch nach der Geburt nur langsam. Während der gesamten Zeit kann das Weibchen nicht erneut trächtig werden - "ein Kind ist das perfekte Verhütungsmittel", schreibt Ryne Palombit von der Rutgers University in einer Übersichtsarbeit zu Infantizid im Tierreich.

Diese Verhütung aber ist keineswegs im Sinne eines Männchens, das neu in eine Gruppe kommt. Ein ranghoher Neuankömmling möchte Jungtiere, die seine eigenen Gene weitertragen, nicht die irgendeines inzwischen abgedankten Vorgängers. Um sich nicht gedulden zu müssen, ist die Kindstötung aus seiner Sicht ein probates Mittel. "Infantizid vernichtet den Verhütungseffekt", schreibt Palombit. Denn die Weibchen werden tatsächlich schneller wieder fruchtbar und trächtig, wenn ihr Junges gestorben ist. Unberührt von menschlichen Moralvorstellungen, paaren sie sich bevorzugt mit eben jenem Männchen, das kurz zuvor ihr Junges umgebracht hat. Als belegt gilt diese "Sexuelle-Selektions-Hypothese" für viele Primaten, aber auch für manche Spinnen, Vögel, Nilpferde, Pferde, Delfine, Bären, Löwen, Mäuse und Ratten.

Funktionieren kann diese Strategie aber nur, weil Infantizid nicht als blinder Mechanismus abläuft, keineswegs vergleichbar mit dem Fuchs, der in einen Hühnerstall eindringt und dort in rauschhaftem Jagdtrieb alles tötet, was Federn hat. Ob ein Männchen fremden Nachwuchs tötet, unterliegt einer peniblen (wenngleich dem Tier natürlich nicht bewussten) Kosten-Nutzen-Rechnung. Das zeigten auch die Paviane im Amboseli-Park: Stieß ein rangniedriges Männchen zu einer neuen Gruppe, in der es keine Aussicht auf sozialen Aufstieg hatte, ließ es die trächtigen Weibchen und Neugeborenen in Ruhe. Warum töten, wenn einem die Gunst der Weibchen - für die ranghohe Partner attraktiver sind - ohnehin verwehrt bleibt? Schließlich bergen die Attacken auch für die Männchen ein gewisses Risiko, trotz ihrer körperlichen Überlegenheit.

Dagegen steigt der potenzielle Nutzen eines Infantizids - und damit seine Wahrscheinlichkeit - wenn die Geschlechter innerhalb der Gruppe ungleich verteilt sind. "Infantizid und vermutlich auch Fetozid gibt es häufig in Gruppen, in denen auf jedes Männchen viele Weibchen kommen", sagt die französische Biologin Huchard.

Bis hierhin sieht es nicht gut aus für ein Weibchen und seinen Nachwuchs, wenn sie auf ein fremdes Männchen stoßen. Doch nicht umsonst haben Forscher in diesem Zusammenhang die Phrase vom "Kampf der Geschlechter" geprägt. "Die Weibchen haben Gegenstrategien entwickelt, um sich zu wehren", sagt Kappeler. Zwar bleibt oft noch unklar, ob der Infantizid wirklich die treibende Kraft für diese Strategien ist oder umgekehrt eher eine Folge davon. In jedem Fall aber ist die Liste der weiblichen Schutztaktikten bemerkenswert.

Besonders verbreitet ist die "Vaterschafts-Verwirrung". Sie entsteht, sobald das Weibchen Sex mit mehreren Partnern hat. Dann riskiert ein Männchen, seinen eigenen Nachkommen zu töten - und lässt die Attacke lieber bleiben. Außer weiblichen Primaten nutzen Präriehunde, Delfine, Bären, Löwen und Dachse diese Taktik. Auch eine enge Freundschaft mit einem Männchen hilft einem gefährdeten Weibchen: Der starke Verbündete beschützt - und hat im Gegenzug beste Chancen, sich vom platonischen Freund zum Sexualpartner hochzuarbeiten. Manche Weibchen setzen aber auch auf die Unterstützung von Geschlechtsgenossinnen und pflegen zu ihnen enge Freundschaften. Durch die nüchterne Brille der Evolution betrachtet, bereichern die Kindstötungen also durchaus das Sozialverhalten: "Infantizid kann ein wichtiger Faktor sein, um Sozial- und Paarungssysteme zu strukturieren", sagt Elise Huchard.

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Quelle:
SZ vom 19.01.2017
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