Süddeutsche Zeitung

Zoologie:Invasion der kleinen Hirsche

Vor gut 100 Jahren wurden in Großbritannien einige Chinesische Muntjaks freigelassen. Heute sind die Tiere in England eine Plage - und drohen, auch Kontinentaleuropa zu erobern.

Von Kai Althoetmar

Er ist klein, hat aber Appetit auf alles Mögliche: der Chinesische Muntjak, eine Zwerghirschart, die sich nicht nur in China wohlfühlt. Als der Muntjak vor mehr als hundert Jahren in England ausgesetzt wurde, war er ein Exot, inzwischen gilt er dort als Plage. Mittlerweile hat er auch in Kontinentaleuropa Fuß gefasst. Und all das, wie Forscher nun zeigen, begann mit verblüffend wenigen Tieren: Eine Handvoll trächtiger Weibchen genügte für die Invasion.

Im 19. Jahrhundert waren einige der Tiere, die wegen ihrer Schulterhöhe von nur 50 Zentimetern auch Zwergmuntjaks genannt werden, von China nach England exportiert worden, um dort in Zoos und Tierschauen gezeigt zu werden. Unerwartet stark vermehrten sie sich in der Gefangenschaft fern ihrer Heimat. Die Eroberung der britischen Inseln begann 1901, als aus einem Park in Bedfordshire elf Tiere in die Freiheit entlassen wurden. Heute schätzen Zoologen die Zahl der Muntjaks im Vereinigten Königreich auf mindestens 52 000.

In China und Taiwan soll es etwa 118 000 Tiere geben. In Großbritannien breitet sich die Art derzeit um einen Kilometer pro Jahr nordwärts aus und hat inzwischen die Grenze zu Schottland erreicht, erfolgreich Wales und Englands Südwesten erobert und taucht neuerdings sogar in Irland auf. Vor gut einem Jahr haben Zoologen untersucht, wie groß die Ursprungspopulation in England war. "Unsere Ergebnisse zeigen, dass die ganze Invasion auf ein einziges Gründungsereignis unter Einbezug einer kleinen Zahl von Weibchen zurückgeführt werden kann", schrieben die Forscher um Jim Provan von der Queen's University in Belfast im Journal of Zoology.

Konkret sollen nur vier oder fünf Weibchen die Gründermütter der gesamten heutigen Population sein. Die Forscher schlussfolgern daraus, dass selbst kleinste Freilassungsaktionen zu einer unumkehrbaren und kostenträchtigen invasionsartigen Ausbreitung einer Spezies führen können.

Biologen waren in der Vergangenheit davon ausgegangen, dass eine ganze Reihe von Aussetzungen oder Einwanderungsschüben zwingend nötig ist, damit sich eine eingewanderte Art auf Dauer etablieren kann. Andernfalls drohe ein sogenannter Flaschenhalseffekt, eine genetische Verarmung. Aufgrund von Inzucht können die Tiere dann zum Beispiel anfälliger für Krankheiten werden.

Die Tiere vermehren sich zu jeder Jahreszeit. Kitze sind schon nach 36 Wochen geschlechtsreif

Für ihre Studie untersuchten die Forscher DNA-Proben von 176 britischen Muntjaks. Die Analyse des Erbguts ergab, dass die genetische Distanz zwischen den einzelnen Tieren verschwindend gering ist, sie also eng miteinander verwandt sind. Die Wissenschaftler warnen daher vor der Gefahr, dass invasiven Arten unter günstigen Bedingungen eine kleine Gründerpopulation genügen kann, um neues Terrain zu erobern. Zugleich sehen sie aber auch bessere Chancen für Wiederansiedlungen lokal ausgestorbener Arten. Oft genügten schon wenige Individuen, um einer Spezies eine neue Chance zu geben, schreiben die Forscher in ihrer Studie.

Erfolgsbeispiele seien der Sattelvogel in Neuseeland, der Alpensteinbock und in China der Davidshirsch, der in freier Wildbahn zwischenzeitlich ausgestorben war. Zur starken Verbreitung hat sicher beigetragen, dass sich die kleinen Hirsche das ganze Jahr über vermehren und schon mit 36 Wochen geschlechtsreif werden. Die Lebenserwartung in freier Wildbahn beträgt bis zu zwölf Jahre. Außerdem kommt den aus den Subtropen stammenden Tieren das atlantische Klima entgegen, sie brauchen milde Winter.

In Großbritannien verursachen die Muntjaks mittlerweile erhebliche Schäden. Die Forscher führen Kollisionen mit Autos an - geschätzt 15 000 pro Jahr. Zudem übertragen die Hirsche die Erreger von Rinder-Tuberkulose und Maul- und Klauenseuche. Dazu kommen Ernteschäden bei Bauern und der Rückgang der Bodenvegetation in Wäldern.

Die Muntjaks könnten bald die häufigste Hirschart auf der Insel sein. Zwar ist eine Koexistenz mit Rothirsch und Reh möglich, doch in Südostengland wurde festgestellt, dass mit der verstärkten Präsenz von Muntjaks die Zahl, das Durchschnittsgewicht und die Fruchtbarkeit von Rehen deutlich zurückgingen. Die Kleinhirsche besetzen zudem ökologische Nischen, die von verwandten Arten gemieden werden. Nicht nur Wälder, auch Parks und sogar Gärten sind ihnen als Lebensraum recht.

Werden die einzelgängerischen, sich meist im Dickicht verbergenden Muntjaks nicht bejagt, erreichen sie Populationsdichten von 20 bis 120 Tieren je Quadratkilometer. Sie sind eher Laubäser als Grasfresser. Zu ihrer Kost zählen neben Blättern, Trieben, Samen und Rinden auch Blumen, Früchte - vor allem Brombeeren - und die Gelege bodenbrütender Vögel. In Großbritannien sollen Muntjaks für den lokalen Rückgang von Nachtigallen, Drosseln und Gartengrasmücken verantwortlich sein.

Natürliche Feinde haben sie dagegen auf der Insel so gut wie keine. "Unbekannt" antwortet der Evolutionsgenetiker Jim Provan aus Belfast auf diese Frage. Angenommen wird, dass sich Füchse zuweilen an den Kitzen vergreifen. In ihrer Ursprungsheimat Asien haben die verschiedenen Muntjak-Arten in Tiger, Rothund, Krokodil und Python wesentlich beeindruckendere Fressfeinde.

Ob sich die Art in Schottland behaupten werde, sei schwer zu sagen, erklärt Provan. Das Auftauchen der Zwerghirsche in Irlands freier Wildbahn führt er zumindest teilweise auf Tiere zurück, die aus Parks oder privaten Haltungen ausgebrochen sind. Auch illegale Auswilderungen könnten mitverantwortlich sein.

Das Problem drohe auch Kontinentaleuropa, sagt Provan. In den Niederlanden gab es Ende der 1990er-Jahre erste Sichtungen in freier Wildbahn, zunächst in der Veluwe, dem größtem Waldgebiet der Niederlande, und im Raum Achterhoek, beides Gegenden in der Provinz Gelderland im zentralen Osten des Landes. Von dort ging es südwärts. In der Provinz Nordbrabant an der Grenze zu Belgien hat sich inzwischen eine Population von etwa 50 bis 100 Tieren etabliert.

Forscherinnen der Universität Lüttich und der Koordinierungsstelle für invasive Arten (CiEi) der Wallonischen Region haben vor drei Jahren eine alarmierende Studie zur Ausbreitung der Muntjaks vorgelegt. Darin schreibt das Team um Vinciane Schockert von der Forschungsstelle für Tiergeografie der Uni Lüttich: "Die Möglichkeit, dass von der kleinen isolierten Population in den Niederlanden eine künftige Expansion ausgeht, gibt Anlass zu der Sorge, dass weite Teile Kontinentaleuropas kolonisiert werden."

Aus Belgien werden bereits erste Verkehrsunfälle mit Muntjaks gemeldet. Die Tiere sind aus den Niederlanden eingewandert oder aus belgischen Tierparks durch undichte Zäune ausgebüxt. Die Forscherinnen halten eine natürliche Ausdehnung der niederländischen Population nach Belgien für kaum vermeidbar. In den Wäldern der belgischen Provinzen Antwerpen und Limburg werden die Zwerghirsche inzwischen regelmäßig gesichtet. "Sie tolerieren Störungen durch den Menschen und passen sich an Verkehr und Leute an", heißt es in der Studie.

Muntjaks mögen trockene Sommer und milde Winter. Regen vertragen sie weniger gut

Demnach sind alle Regionen Belgiens außer den Ardennen "optimal", um von Muntjaks besiedelt zu werden. Auf lange Sicht könnten Tiere aus den Niederlanden oder Belgien auch nach Deutschland einwandern und in grenznahen Regionen wie dem Niederrhein oder dem Münsterland auftauchen. Wahrscheinlicher aber sei, sagt Schockert, dass Chinesische Muntjaks sich in Deutschland erfolgreich ansiedeln, weil eine kleine Zahl von Tieren aus Parks oder Privathaltungen entkommt oder freigelassen wird. Gleiches gilt theoretisch für Tieflagen in der Schweiz und Österreich.

Entscheidend ist das Klima. Die Zwerghirsche sind von Natur aus trockene Winter gewohnt. Schockert berichtet, in Südengland habe es während harter Winter unter den dortigen Populationen eine hohe Sterblichkeit gegeben. Wie sich der Klimawandel auf die Überlebenschancen der Art in Europa auswirkt, sei offen. "Wenn uns das regnerische Sommer und Winter bringt, wird dies für die Muntjaks sicher nicht optimal sein", sagt die 41-jährige Zoologin. Trockenere Sommer und mildere Winter aber kämen den Zwerghirschen zupass.

Wenn sie sich einmal etabliert haben, ist es schwierig, die Zwerghirsche wieder loszuwerden. In der Studie heißt es: "Es gibt bislang kein Beispiel einer erfolgreichen lokalen Muntjak-Ausrottung." Jeder Versuch sei "ressourcenintensiv". Effektiv seien nur Drückjagden, bei denen viele Jäger zu Fuß im Einsatz sind. Die Forscherinnen raten, Muntjaks in Gefangenschaft zu sterilisieren und zu registrieren, damit sich das britische Szenario nicht auf dem europäischen Kontinent wiederholt.

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SZ vom 13.06.2016
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