Zoologie:Hüter der Quallen

Daniel Strozynski -- Tierpfleger Berliner Zoo -- Aquaristik

Die Zucht von Quallen ist ein schwieriges Geschäft, Tierpfleger Daniel Strozynski kennt alle Tricks: Etwas mehr Licht oder Strömung, vielleicht ein Wasserwechsel - schon klappt es mit der Fortpflanzung.

(Foto: Mike Wolff/Der Tagesspiegel)

"Die Qualle ist in ihrer Funktionsweise super von der Natur durchdacht und ästhetisch total schön": Tierpfleger Daniel Strozynski hat am Berliner Zoo eine einzigartige Zucht aufgebaut. Ein Besuch.

Von Esther Göbel

Eigentlich wollte er zu den Reptilien. Oder den Elefanten. Oder wenn schon nicht zu den Landtieren, dann zumindest zu den Fischen. Ein Fisch kann dich angucken, immerhin. Aber eine Qualle? Die ist halt eine Qualle und fertig. Quallen machen keine Geräusche, zeigen keine Gefühle, können dich nicht mal ansehen. So hatte Daniel Strozynski sich das zumindest gedacht, damals, als er sich beim Berliner Zoo für eine Ausbildung als Tierpfleger beworben hatte. Er landete schließlich im Berliner Aquarium und bekam die Stelle - aber nicht bei den Fischen.

Zwanzig Jahre später steht Daniel Strozynski in genau jenem Aquarium vor einem 4000-Liter-Becken und blickt versonnen hinein. Hinter dem dicken Glas mäandern durchsichtige Meeresgeschöpfe durchs Wasser, die in etwa so viel mit einem Reptil oder einem Elefanten zu tun haben wie Strozynskis Job mit dem eines Büroangestellten. Um ihn herum rauscht an diesem Wintermorgen eine Horde Flummis vorbei, die sich bei genauerem Hinsehen als eine Gruppe Vorschulkinder in bunten Schneeanzügen und grell-gelben Warnwesten entpuppt. Ziel: Das riesige Meeresschaubecken, vor dem schon eine zweite Horde Kita-Kinder wartet. Es ist Fütterungszeit; die Fische im Schaubecken kriegen Krebse und Weichtiere, die Kinder Kekse und Käsebrote. "Boah, guck ma!", ruft ein etwa fünfjähriges Mädchen, die roten Bäckchen gefüllt mit Zwischenfrühstück, das Gesicht an die Scheibe des Aquariums gedrückt. Dort rudert gerade eine Meeresschildkröte durch das Wasser. Keines der Kinder hat vor einem der acht Quallenbecken haltgemacht. Nur zwei weißhaarige alte Damen mit Hut und Steppweste stehen vor einer kreisrunden Scheibe und beobachten die winzigen Fingerhutquallen.

"In ihrer Funktionsweise super von der Natur durchdacht und ästhetisch total schön"

Vielleicht braucht, wer die Schönheit von Quallen erfassen und verstehen will, tatsächlich ein bestimmtes Alter. Eine gewisse Reife. Quallen sind keine Statustiere. Nicht so wie Tiger, Elefanten oder Giraffen. Sie sind still, sensibel und zart, mit ihren gallertartigen Körpern, die zu 99 Prozent aus Wasser bestehen, und den manchmal hochgiftigen und meterlangen Nesselfäden, mit denen sie ihre Beute jagen, zum Beispiel Kleinkrebse oder Insektenlarven. Wer die Schönheit der Tiere erkennen will, braucht Geduld. Muss sich nah heranbeugen bei den kleineren Quallen, etwa bei Linuche unguiculata, muss den stillen Tanz der größeren wie Aurelia aurita auf sich wirken lassen, die im dunkelblauen Aquarium durch ein Meer aus millimeterkleinem Plankton treiben, als schwebten sie im Weltall durch Sternenstaub.

Die meisten Menschen aber sehen in Quallen nur jenen Glibber, über den sie als Kinder in den Ferien am Nordseestrand stolperten und der sich doch so gut eignete, um die Geschwister oder gleich die Eltern damit zu bewerfen. Auch Quallenzüchter Daniel Strozynski musste sich erst an seine Schützlinge gewöhnen. Heute weiß er: "Die Qualle is ganz einfach gebaut, aber in ihrer Funktionsweise super von der Natur durchdacht und ästhetisch total schön. Welche Qualle seine liebste ist, kann er deswegen gar nicht sagen. "Eigentlich alle. Jede hat ja irgendwo ihren eigenen Reiz."

Strozynski, 42, zweifacher Familienvater und natürlich Tierliebhaber, ist ein kleiner, rundlicher Mann mit leicht angegrauten Schläfen, dessen Ehering sich in 19 Jahren tief in den linken Ringfinger eingeschnürt hat und dessen gemütlicher Bauch sich unter seiner Arbeitskleidung abzeichnet, dem dunkelblauen T-Shirt des Berliner Aquariums. Er hat kräftige Arme vom Putzen der Aquarien und eine bodenständige Art, was man an der Antwort merkt, die er auf die Frage nach seinem Erfolgsrezept gibt. "Na ja, man muss sich halt die Zeit nehmen. Also viel probieren und schauen, was passt", sagt Strozysnki mit leichtem Berliner Akzent. So einfach ist sein Erfolgsrezept.

Dabei ist es so einfach natürlich nicht. Der Quallenspezialist hat eine zumindest für Europa einzigartige Zucht aufgebaut. Immer wieder bekommt Strozynski deswegen Besuch von Kollegen aus dem Ausland, die sich etwas von seinem Know-how abgucken wollen. Jede der rund 30 verschiedenen Arten, die unter seiner Hand gedeihen, braucht andere Parameter für ein optimales Wachstum, dazu strenge hygienische Bedingungen und ein ausgeklügeltes technisches Verfahren, das in jedem Becken eine Strömung generiert. Damit die Quallen nicht auf den Boden absinken, was für sie lebensgefährlich sein kann. Am Boden lauern Bakterien. Zudem würden die Quallen mit ihren sensiblen Leibern schnell beschädigt.

Deswegen treiben sie unaufhörlich mit der künstlichen Strömung mit, auch um Beute zu fangen. Die Kompass-Qualle beispielsweise fängt mit ihren weißen, fadenartigen Tentakeln gerne kleine Salzwasserkrebse, die dann als winzige orangefarbene Punkte im Magen der farblosen Qualle enden. "Oder die hier", sagt Strozynski und bewegt sich zum nächsten Becken, in dem 400 Ohrenquallen in einer Art sphärischem Ballett in Blau auf und ab schweben. "Wenn die sterben, nehmen wir die raus, zerschnippeln die und verfüttern die an andere Quallen. Das haben wir irgendwann mal ausprobiert, das funktioniert sehr gut."

Wenn Quallen jagen, verlieren sie jene Unschuld, die viele in ihnen sehen wollen: Auf den Nesselfäden sitzen kleine Nesselkapseln, hocheffiziente Mini-Durchschlagsgeschosse, die sich bei mechanischer Reizung blitzschnell entladen und sich sogar durch gepanzerte Kleinsttiere durchbohren; das Opfer hat keine Chance. Innerhalb von wenigen Millisekunden hat die Qualle ihr Gift injiziert.

In manchen Nächten hat er "Quallen-Notdienst"

Zoologie: Tanzende Schönheiten unter Wasser, nur Glibber am Sand: Schirmquallen im Aquarium. Ihr Körper besteht zu 99 Prozent aus Wasser, manche Arten haben 30 Meter lange Tentakel.

Tanzende Schönheiten unter Wasser, nur Glibber am Sand: Schirmquallen im Aquarium. Ihr Körper besteht zu 99 Prozent aus Wasser, manche Arten haben 30 Meter lange Tentakel.

(Foto: Zoo Berlin)

Bis zu 15 verschiedene Arten zeigt das Berliner Aquarium in den Schaubecken. Und die sollen nach Möglichkeit immer bestückt sein, damit die Besucher sich nicht langweilen. Für Strozynski bedeutet das Stress. Hat er die neuen Quallen gerade in die Schaubecken umgesetzt, liegen die Alten schon wieder im Sterben; die Tiere haben eine maximale Lebensdauer von acht bis zehn Monaten, und die Anzucht neuer Jungquallen ist kompliziert. Ständig züchtet er deswegen, knobelt, putzt und füttert.

Manchmal liegt der Tierpfleger nachts wach im Bett. In den Terrarien in seinem Wohnzimmer kriechen ein paar Geckos und Eidechsen durch die Dunkelheit, Familienhund Lili, ein kleiner Chihuahua, schlummert im Körbchen, Strozynskis Frau, die am anderen Morgen wieder pünktlich um 7 Uhr an der Kasse bei Netto stehen muss, schläft längst - während ihr Mann sich sorgt, dass die neu aufgezogenen Quallen auch wirklich gut gedeihen mögen.

In manchen Nächten hat Strozynski auch noch "Quallen-Notdienst", dann muss er raus, wenn sein Handy auf dem Nachttisch piept. Bis zum Aquarium sind es nur ein paar Minuten; die Familie wohnt auf dem Zoogelände, gleich neben dem Wirtschaftshof. Und das ist auch gut so. Wenn es brenzlig wird, zum Beispiel, weil in einem der Becken die Technik versagt und die Strömung aussetzt, zählt jede Minute, um die Tiere vor dem Absinken auf den Boden zu bewahren. Ständig bewegt Strozynski sich in seinem Job zwischen Leben und Tod. Und zwischen oben und unten. Denn sein Arbeitsbereich liegt weniger bei den Schaubecken, wo die Besucher und Flummi-Kinder umherlaufen. Sondern vielmehr im Keller, zwischen den Heizungsrohren, hinter der schweren braunen Tür, wo normalerweise kein Besucher hindarf.

Strozynski steckt den Schlüssel ins Schloss, dreht ihn und öffnet die Tür mit einem festen Ruck. Dahinter riecht die Luft nach Meer, irgendwo brummt eine Pumpe. Der Tierpfleger nimmt eine kurze Treppe, vorbei an Eiweiß-Abschäumern und Aquariumstechnik, folgt einem langen Gang durch künstliches Licht und unter einer niedrigen Decke hindurch, biegt rechts ab in einen Raum: den Quallen-Kindergarten. "Hier ham wa jetzt über 100 Becken, und die putz ich alle durch, und so geht dit weiter und immer weiter", sagt Strozynski. Bis in die letzte Ecke ist das Zimmer mit kleinen Anzuchtbecken gefüllt, quadratischen, runden, bemoosten, beheizten.

Hier züchtet er die Polypen, aus denen später einmal Jungquallen entstehen. Die schlüpfen aber nicht oder werden geboren, sondern sie "strobilieren", wie es im Fachjargon heißt. "Diese kleinen Punkte hier", sagt Strozynski, bleibt vor einem der kleinen Zwölf-Liter-Becken stehen, beugt sich ein Stückchen näher heran und deutet mit dem rechten Zeigefinger ins Glasinnere auf einzelne Punkte, "das sind alles winzig kleine Polypen." Einige davon schöpft Strozynski mit der Pipette ab, wenn er will, dass sie strobilieren, "und dann macht man nen Frühling nach, bei der Ohrenqualle ist das zum Beispiel so. "Frühling nachmachen" heißt bei Strozynski: etwas mehr Licht als noch im Polypenbecken, etwas mehr Strömung, ein Wasserwechsel. Andere Polypen gedeihen im Kühlschrank am besten oder strobilieren nur zu einer bestimmten Mondphase.

Die typische Qualle macht im Laufe ihres Lebens zwei Daseins-Stadien durch, Wissenschaftler nennen dieses Prinzip Generationswechsel. Da ist der Polyp, der sich erst festsetzt und sich ungeschlechtlich vermehrt; er strobiliert und bildet durch Abschnürung freischwimmende Jungquallen aus. Die wiederum wachsen heran und bilden durch geschlechtliche Fortpflanzung Larven, die sich ihrerseits wieder zum Polypen entwickeln. Ein Erfolgsmodell: Quallen zählen zu den ältesten Lebewesen auf der Erde, seit mehr als 550 Millionen Jahren treiben sie durch die Weltmeere. "Man kann sich da schon fragen: Wie stehen Polyp und Qualle zueinander?", sagt Strozynski, "dit is eigentlich echt ne philosophische Sache."

"So 300 Jahre alt werden, dit wär' schon was." Aber ein ewiges Leben? Lieber nicht

Quallen berühren die großen Fragen der Philosophie aber noch in einem weiteren Punkt, zumindest bei der Art Turritopsis nutricula. Die nämlich lässt den Begriff der Zeit relativ werden - das Tier altert, stirbt aber nicht. Im Erwachsenenalter kann es sich in einen Polypen zurückbilden und in einen undifferenzierten Zellstatus übergehen. Statt eines dahinsiechenden und bald toten Greises wird die Qualle wieder zum Kind, nämlich zum Polypen, der wiederum neue Jungquallen ausbildet. Die Qualle ist eine Verwandlungskünstlerin, wie es sie in der Natur kein zweites Mal gibt.

Trotz oder gerade wegen ihrer Einzigartigkeit hat Strozynski bislang von Turritopsis nutricula nur gehört. "Die is ganz schwer zu kriegen, wurde mir noch nirgendwo angeboten", sagt er. Die Polypen der Qualle sind so klein, dass ein Fund in freier Wildbahn auf einem glücklichen Zufall gründen würde, und in einer der Aquariums-Tauschbörsen hat der Tierpfleger sie auch noch nie gesehen. Vielleicht auch besser so. In der unsterblichen Qualle spiegelt sich schließlich die menschliche Vergänglichkeit. Hätte Strozynski die Qualle in seinen Anziehbecken, würde er immer älter - während Turritopsis nutricula immer jünger würde. Über die eigene Sterblichkeit hat er trotzdem schon nachgedacht, "passiert ja automatisch bei dieser Arbeit".

Viel hat sich geändert in den vergangenen zwei Jahrzehnten, in denen er Polypen zum Strobilieren und Besucheraugen zum Staunen gebracht hat. Immer mehr Zoos auf der Welt starten Quallenzüchtungen, während die Tiere in freier Wildbahn öfter als früher zu Plagen werden. Schuld sind die Menschen, die die Meere überfischen und das Klima anheizen. Manchmal machen Strozynski diese Zusammenhänge Angst. "Man sieht ja schon hier unten, wie in der Natur jedes Lebewesen vom anderen abhängt. Alles ist so fragil." Könnte er selbst sein Ende bestimmen, würde der Tierpfleger gern länger leben. "So 300 Jahre alt werden, dit wär schon was." Aber ein Leben auf ewig? Lieber nicht, findet Strozynski. Irgendwann muss auch mal Schluss sein. Dann wartet auf ihn nur noch die Ewigkeit - während Turritopsis nutricula in aller Stille weiter ihre Kreise durch die Weiten des Meeres zieht, die Wasseroberfläche als einzige Begrenzung ihres Daseins.

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