Schelladler in Polen:Aussterben aus Verzweiflung

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Schreiadler sehen ihren seltenen Verwandten sehr ähnlich. Selbst Vogelkundler tun sich manchmal mit der Unterscheidung schwer. (Foto: dpa)
  • Der seltene Schelladler paart sich oft mit dem häufigeren Schreiadler und beschleunigt dadurch sein eigenes Aussterben.
  • Die beiden Arten haben sich erst vor einer Million Jahren evolutionär getrennt.
  • Verantwortlich für den Prozess ist der Mensch, der ökologische Grenzen einreißt.

Von Thomas Krumenacker

Das Tal der Biebrza im Osten Polens ist eine der letzten Wildnisse Europas. Gemächlich schlängelt sich der Fluss auf mehr als 160 Kilometern unreguliert durch das flache Land. Alte Wälder säumen den Flusslauf und seine vielen Altarme. Feuchtwiesen, Marschen und Moore durchziehen das Gebiet. Die wenigen in der Weite der Landschaft verstreuten Dörfer wirken wie aus der Zeit gefallen. Die Region, Heimat einer der seltensten Vogelarten der Erde - des Schelladlers -, ist ein Naturparadies.

Allerdings nur auf den ersten Blick. Die Idylle ist Schauplatz eines dramatischen biologischen Prozesses, an dessen Ende das Aus für den seltensten Adler Europas stehen könnte. Die hier wie andernorts immer weiter voranschreitende Trockenlegung nasser Marschwiesen hat für den Schelladler bedrohliche Nebenwirkungen: Sie raubt ihm nicht nur die Jagdgründe, sondern mit der menschgemachten Veränderung der Landschaft wird auch eine unsichtbare Grenze eingerissen: die Artbarriere zu einem nahen Verwandten, dem Schreiadler. Für ihn ist durch die Veränderung des Lebensraums das Tor weit aufgestoßen, um in die ökologische Nische seines nahen Verwandten vorstoßen zu können.

Schell- und Schreiadler haben sich erst vor etwa einer Million Jahren zu eigenständigen Arten auseinanderentwickelt, eine in evolutionären Maßstäben kurze Zeit. Entsprechend sind sich die Zwillingsarten noch sehr ähnlich, was nicht nur manchem Vogelbeobachter Kopfzerbrechen bei der Bestimmung macht. Wegen der kurzen Zeit seit der Artaufspaltung hat sich noch keine vollständige Reproduktionsbarriere zwischen Schell- und Schreiadlern gebildet, beide Arten können sich paaren und gemeinsamen Nachwuchs aufziehen. Dies gilt auch für die weiteren Generationen der daraus erwachsenen Hybridpopulationen. Dennoch ist unumstritten, dass es sich bei Schell- und Schreiadler definitiv um zwei verschiedene Arten handelt.

Den Weibchen imponieren die Eindringlinge: Obwohl sie kleiner sind, können sie besser jagen

Zur wechselseitigen Attraktivität trägt bei, dass viele für die Fortpflanzung wichtige Eigenschaften wie Balzverhalten und Brutbiologie immer noch sehr ähnlich sind. Nur über die in Nuancen unterschiedliche Wahl des Lebensraums haben die Zwillingsarten in der kurzen Zeit der Auseinanderentwicklung ihre ökologische Nische gefunden. Die nach dem Frühjahrshochwasser natürlicherweise noch lange großflächig überschwemmten Marschen und die angrenzenden flussnahen Wälder bilden die entscheidende ökologische Barriere zwischen ihnen. Schelladler benötigen feuchte entlegene Bruchwälder zum Brüten und große Überschwemmungsflächen zur Jagd auf Wasservögel. Schreiadler lieben es hingegen eine Stufe trockener und bevorzugen Feuchtwiesen, Weiden und Heuwiesen, jenes Habitat also, das nach einer Drainage entsteht.

Für den Schreiadler erschließt sich mit der Trockenlegung der bislang dem Schelladler vorbehaltene Lebensraum. Zudem entsteht eine direkte Kontaktzone zur anderen Art. Der noch dünne Faden der Isolation beider Arten voneinander wird aufgehoben. Ähnliches geschieht seit einigen Jahren großräumig in vielen Brutgebieten des Schelladlers in Osteuropa, eine Folge der Entwässerung zur Gewinnung von Agrarland. Hinzu kommt: Ist der Schreiadler einmal im Lebensraum des selteneren Verwandten angekommen, wird er nicht etwa von den größeren Schelladlern vertrieben. Im Gegenteil. Die wesentlich größeren Schelladlerweibchen stehen auf die kleinen Schreiadlermännchen. Sie ziehen die Eindringlinge nicht selten ihren langjährigen Partnern vor. Unter anderem gefällt es den Schelladlerweibchen, dass die Schreiadlermännchen erfolgreicher Beute machen, weil sie wesentlich besser an die Bedingungen des neuen Lebensraums aus Wiesen und Weiden angepasst sind. Dies verspricht im Kalkül der Schelladlerweibchen bessere Chancen auf Bruterfolg. Damit ist der Weg für Mischbruten und die Hybridisierung beider Arten frei, denn die Verbesserung der Chancen auf eine erfolgreiche Reproduktion ist eine treibende evolutionäre Kraft. Vor allem für die selteneren Schelladler ist das eine gefährliche Liebschaft. Denn bei Hybridisierungsprozessen setzt sich langfristig der Genpool der häufigeren Art durch.

Zwar ist die Fortpflanzung zwischen nahe verwandten Arten grundsätzlich ein natürliches Phänomen. Es wird geschätzt, dass jede zehnte Vogelart sich mit einer anderen fortpflanzen kann. Zwei Hauptfaktoren begünstigen Hybridisierung zwischen unterschiedlichen Arten: Ein Überlappen ihrer Brutverbreitungsgebiete und die Seltenheit einer der beteiligten Arten, weil es für diese schwieriger ist, einen Brutpartner aus der eigenen Art zu finden. Im Biebrza-Tal und andernorts in Osteuropa wird durch großflächige Trockenlegungen die in früherer Zeit bei Schell- und Schreiadlern nur vereinzelt vorgekommene Hybridisierung massiv begünstigt. Der Mensch legt so faktisch den Rückwärtsgang in der evolutionären Auseinanderentwicklung beider Arten ein.

Zum Aussterben einer Art kann Hybridisierung dann führen, wenn es für die seltenere Art weitere Gefährdungsfaktoren gibt. Beim Schelladler ist dies der Fall: Die nur wenige Tausend Paare umfassende Population hat schwer mit Lebensraumzerstörung und Verlusten auf den Zugwegen in die Winterquartiere zu kämpfen. Die Reproduktionsrate ist zugleich gering.

Aus Sicht eines individuellen Schelladlers ist die Verpaarung mit einem Schreiadler keineswegs ein Beitrag zum Selbstmord der Art, sondern nur vernünftig. Denn verstreut auf ihr riesiges Verbreitungsgebiet von 13 Millionen Quadratkilometern leben nur noch wenige Tausend Schelladler, und entsprechend schwierig ist das Zusammenfinden von Brutpartnern. Die plötzliche Anwesenheit einer mit 20 000 bis 30 000 Paaren viel häufigeren Geschwister-Art bietet einen Ausweg, sich dennoch fortpflanzen zu können. In der Biologie ist dieses Phänomen als "Hubbs-Prinzip" oder "Verzweiflungs-Hypothese" bekannt.

Wie weit die Hybridisierung zwischen beiden Adlerarten schon fortgeschritten ist und wie rasant sie verläuft, zeigen neuere Untersuchungen auch aus dem Biebrza-Tal. Zu Beginn einer Langzeit-Studie wurden dort bereits 1996 Mischpaare aus Schell- und Schreiadlern registriert. Der Anteil der Hybridpaare stieg in der Zeitspanne bis 2012 um mehr als 30 Prozent an. Die Zahl der Reviere von artreinen Schelladlern brach sogar um 50 Prozent ein. Auch andere Untersuchungen zeigen, dass die Hybridisierung mittlerweile in weiten Teilen des gemeinsamen Siedlungsgebietes normal ist. "Sie stellt eine Bedrohung für die ohnehin anfällige Population des Schelladlers dar und kann sogar zu deren Aussterben beitragen", folgern Wissenschaftler aus Schweden und den baltischen Staaten nach genetischen Untersuchungen Hunderter Proben aus dem gesamten europäischen Verbreitungsgebiet beider Arten.

In manchen Gegenden sind die Schelladler so rar, dass sie keinen Partner der eigenen Art finden

Langzeit-Beobachtungen aus den baltischen Staaten zeigen: Dort, wo ein Schelladler-Paar eine Brut aufgegeben hat, rückte sofort ein Schreiadler- oder Hybridpaar nach - und blockierte das Revier fortan. Valery Dombrovski von der Weißrussischen Akademie der Wissenschaften in Minsk forscht seit vielen Jahren über Hybrid-Adler. "In Gebieten, die durch menschlichen Einfluss stark verändert wurden, sind teilweise hundert Prozent der Paare Misch- oder Hybridpaare", sagt er. In den wenigen feuchten Wald- und Marschkomplexen, in deren Ökologie kaum eingegriffen wurde, bleibe die Zahl der Mischpaare dagegen gering. Schreiadler meiden diese für ihre Ansprüche zu nassen Habitate.

Um die Lebensraum-Barriere wiederherzustellen, wird im Biebrza-Nationalpark mittlerweile aktiv eingegriffen. Vor allem durch ein Management des Wasserspiegels, das ausreichend Überschwemmungsflächen sicherstellt, sollen offene, wasserreiche Gebiete erhalten bleiben. Einige Hundert Hektar wurden so schon als Lebensraum für Schelladler wiederhergestellt. Ob das ausreicht, das Aussterben der Art zu verhindern, weiß auch der langjährige Vorsitzende des polnischen Adlerschutzkomitees, Tadeusz Mizera, nicht. "Ich habe aber nie zu den Wissenschaftlern gezählt, die am Schreibtisch sitzen, das Desaster beobachten und sagen, man darf nicht eingreifen. Wir haben die Natur zerstört, wir haben das Klima verändert, nun müssen wir etwas tun, um den Schaden zu begrenzen."

© SZ vom 21.03.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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