Süddeutsche Zeitung

Zoologie:Alte Freunde

Weißwangengänse pflegen Beziehungen aus ihrer Jugendzeit auch als Erwachsene. Männerfreund­schaften sind überraschender­weise besonders haltbar. Allerdings versprechen sich die Tiere auch etwas davon.

Von Katrin Blawat

Kaum jemand kann einem so fremd erscheinen wie ein einst guter Freund. Warum nur hing man früher ständig mit diesem Typen zusammen, mit dem man sich nun, nach einschneidenden Ereignissen wie Erwachsenwerden und Familiengründung, kaum mehr etwas zu sagen hat? Solche Gedanken dürften viele Menschen kennen - und daher vielleicht einen Hauch Hochachtung vor Weißwangengänsen verspüren. Diese Vögel nämlich beherrschen offenbar die Kunst, sich auch nach der Gründung einer Familie noch mit Vertrauten aus der Jugendzeit nah verbunden zu fühlen. Das gelte vor allem für die männlichen Gänse, schreibt ein Team um Ralf Kurvers vom Berliner Max-Planck-Institut für Bildungsforschung im Fachblatt Animal Behaviour.

Entgegen dem Klischee von den sozial besonders rührigen weiblichen Lebewesen sind es bei den Weißwangengänsen die Männchen, die auch während der Partnersucher und der anschließenden Brutsaison ihre alten Freundschaften pflegen. Für die Weibchen werden diese offenbar weniger wichtig, solange es den Nachwuchs zu versorgen gilt. Sobald die Jungen jedoch eigene Wege gehen, suchen auch die Gänseweibchen wieder den Kontakt zu ihren alten Freundinnen.

Weißwangengänse fallen vor allem auf, wenn sie mit ihrer charakteristischen schwarz-weißen Gesichtszeichnung in sorgsam gehegten Blumenbeeten von Parks herumpicken - und zwischendurch laut zeternd mit vorgerecktem Hals Artgenossen angiften. Ausgerechnet diese Tiere sollen das Geheimnis der lang andauernden Freundschaft kennen? Ja. Denn hinter all dem Geschimpfe verbirgt sich eine treue Seele. Mit zwei bis drei Jahren suchen sich Weißwangengänse ihren Partner. Dabei gehen sie recht wählerisch vor und testen bis zu sechs Kandidaten. Hat sich ein Paar aber erst einmal gefunden, bleibt es meist eng bis zum Lebensende zusammen.

Den Männchen erspart es Stress, mit Geschlechtsgenossen verbündet zu sein

Innerhalb desselben Geschlechts setzen die Vögel ebenfalls auf langfristig stabile Beziehungen. Als Maß für solche Freundschaften werteten die Autoren, wie häufig und eng zwei Tiere zusammen auf Futtersuche gingen. Die Forscher beobachteten zunächst je eine Gruppe halbwüchsiger weiblicher und männlicher Gänse, die jeweils Freunde unter ihresgleichen fanden. Nach einem halben Jahr, als die Vögel im passenden Alter für die Familiengründung waren, wurden Männchen und Weibchen zusammen gelassen. Schnell fanden sich die Gänse zu Paaren zusammen und begannen zu brüten. Auch während dieser Zeit und des folgenden Winters, als das Paar bereits wieder ohne Nachwuchs lebte, beobachteten die Wissenschaftler die innergeschlechtlichen Beziehungen zwischen den Gänsen.

Dass dabei ausgerechnet die Ganter, also die männlichen Tiere, durch konsistentere Freundschaften auffielen, überrascht auf den ersten Blick. Schließlich haben Studien an vielen Spezies die Vorstellung bestätigt, wonach weibliche Tiere mehr in enge Beziehungen zu Geschlechtsgenossinnen investieren. Sie sind, so lautet eine gängige Theorie, wegen der ressourcenzehrenden Jungenaufzucht stärker auf soziale Unterstützung angewiesen. Andererseits können verlässliche Bindungen zu Geschlechtsgenossen auch den Männchen nützen, haben etwa Untersuchungen an Rotflügelstärlingen und Assam-Makaken gezeigt. Bei beiden Arten zeugen die Männchen mehr Nachwuchs, wenn sie gute Freunde haben.

Auch männlichen Weißwangengänsen bringt es Vorteile, wenn nicht jeder andere Ganter gleich als potenzieller Feind zu sehen ist. Die Männchen verwenden viel Energie darauf, ihren Platz und ihren Nachwuchs zu verteidigen. Das macht Stress und kostet Kraft. Beides lässt sich vermindern, wenn man von klein auf statt in Streit in eine Freundschaft investiert - und diese auch über holprige Lebensphasen hinweg pflegt.

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Quelle:
SZ vom 15.05.2020/hmw
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