Religion und Technik:Wenn der Rollstuhl koscher fährt

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Rabbi Shmuel Veffer mit koscherer Lampe: Eine Blende verdunkelt sie, kein Schalter muss betätigt werden. (Foto: Jim Ross /The New York Times/Red)
  • Nach der Halacha, den jüdischen Gesetzen zur Lebensführung, darf am Sabbat nichts erschaffen werden, selbst das Schließen eines Stromkreislaufs ist tabu.
  • Das Zomet-Institut in Israel arbeitet deshalb an Technik, die orthodoxe Juden auch am Ruhetag verwenden dürfen.
  • Zu den Erfindungen der Forscher zählen etwa Sabbat-taugliche Rollstühle, Stifte oder Metalldetektoren.

Von Agnes Fazekas

Der Lärm ist mal wieder unerträglich. Aber Rabbi Binyamin Zimmerman läuft routiniert wie immer von einem Ausstellungsobjekt zum nächsten, vom Treppenlift in einer Glasvitrine zur Plastikhand, die man zu Demonstrationszwecken in einen Fingerabdruckscanner setzen kann - und lässt per Knopfdruck eine plappernde Stimme nach der anderen verstummen. Eben ist eine jüdische Schulklasse durch die kleine Ausstellung gefegt und hat sämtliche Videos an den Stellwänden simultan zum Laufen gebracht. Als wieder Ruhe herrscht, lächelt der Rabbi sanft. Dann schließt er die Tür eines üppig verdrahteten Toraschreins. Statt heiliger Schriftrollen beherbergt dieses Holzfurnier Weltliches: eine ausgeklügelte Diebstahlsicherung.

Das Besondere an diesen Ausstellungsstücken ist, dass sie trotz des strengen Ruhegebots am Sabbat verwendet werden dürfen. Seit 42 Jahren tüftelt man im Zomet-Institut an der Vereinbarkeit jahrtausendalter Gesetze und moderner Technologie. Zomet, das bedeutet auf Hebräisch: "Kreuzung". Wie diese Vereinbarkeit von Religion und modernem Leben in der Realität aussieht, können Gäste in einem Besucherzentrum sehen. Vorausgesetzt man lässt sich nicht davon abschrecken, dass das "Zomet Experience" in Allon Schewut sitzt, einer national-religiösen Siedlung im von Israel besetzten Westjordanland. Es gibt dort Weinberge, aber auch jede Menge Stacheldraht.

"Warst du schon mal an der Klagemauer?", fragt der Rabbi und führt die Schüler in das Klassenzimmer im Keller. Die Schaltkreismodelle an den Wänden erinnern an den Physikunterricht in der Schule. Hinter Stuhlreihen ist ein Wachturm aus Pappe aufgebaut. Weiter vorne steht eine Metalldetektorschleuse, wie sie in Israel omnipräsent sind. Der einzige Unterschied: Die Schleuse ist koscher, also sabbattauglich.

Orthodoxe Juden weigerten sich, am Sabbat durch einen Metalldetektor zu treten

Nach der Halacha, den jüdischen Gesetzen zur Lebensführung, darf am Sabbat nichts erschaffen und auch kein Feuer angezündet werden. Selbst das Schließen eines Stromkreislaufs ist nach heutiger Auslegung tabu. Gläubige Juden müssen deshalb unter der Woche alles für den Ruhetag vorbereiten. Mithilfe von Zeitschaltuhren ist das bezüglich Herd, Licht oder Warmwasserboiler längst kein Problem mehr. Auch die Melkanlagen in religiösen Kibbuzen arbeiten am Sabbat dank vorheriger Programmierung. So wie einige Aufzüge in öffentlichen Gebäuden automatisch auf jeder Etage halten - zum Ärger der Nichtgläubigen.

Kniffliger wird es, wenn die alten Gesetze auf die Ansprüche einer säkularen Hightech-Gesellschaft treffen. Noch dazu in einem Staat, der so sicherheitsorientiert ist wie Israel. Vor nicht allzu langer Zeit weigerten sich zum Beispiel orthodoxe Juden am Sabbat durch einen Metalldetektor zu treten. Selbst wenn es nur eine Gürtelschnalle ist, die den Alarm auslöst, wäre das streng genommen ein Bruch des Sabbats. Das soll sich nun ändern. Die Metalldetektoren des Zomet-Instituts, die inzwischen auch vor der echten Klagemauer stehen, verfügen über einen Spannungsmesser. Das heißt: Wer mit Metall am Körper durch die Schleuse tritt, verändert nur die existierende Spannung. Ein Zeiger schlägt aus. Aber einen Stromkreis schließt das Gerät deswegen nicht.

Rabbi Zimmerman stammt eigentlich aus New Jersey und lehrt an der Yeshiva von Allon Schewut die Tora, wenn er keine Führungen gibt. Wie die anderen Mitarbeiter des Instituts, 16 Ingenieure und Rabbis, fasziniert ihn die Wissenschaft genauso wie die Interpretation der jüdischen Gesetze. Gerade Rabbis müssten sich mit Technologien auseinandersetzen, findet Zimmerman. Um sie richtig anwenden zu können. "Dass die Juden nicht nur überlebten, sondern heute in Israel als Start-up-Nation prosperieren, liegt daran, dass sie immer offen waren für den Fortschritt", sagt der Rabbi. Nach seinem Verständnis ist alles bereits in der Tora angelegt. Es muss nur entdeckt werden.

Neben Rabbis und Schulklassen lauschen vor allem jüdische Reisegruppen und Geschäftsleute seinen Ausführungen. Die fangen bei Edisons Glühbirne, dem Symbol für die Elektrifizierung der modernen Welt, an - und damit gleichermaßen auch bei der Urfrage für die Tüftler vom Zomet-Institut: Wie lässt sich Strom nutzen und trotzdem angemessen Sabbat feiern?

Die gläubigen Juden haben sich den Sabbat bewahrt, das Gleiche gelte aber auch andersherum, sagt Zimmerman. In der Ruhe am siebten Tag entsteht aus seiner Sicht die Kraft für den Rest der Woche. Die Mission des Instituts besteht also darin, das Sabbaterlebnis zu verbessern. Nicht darin, die Gebote mit allerlei technischen Tricks geschickt zu umgehen. Genau das wird den Zomet-Produkten aber oft vorgeworfen, zumindest von ultraorthodoxen Juden. Sie leben in Jerusalems Nachbarschaft Mea Shearim oder in Tel Avis Vorort Bnei Brak beinahe so spartanisch wie ihre Vorfahren in den osteuropäischen Schtetln.

"Je komplexer unsere Lösungen, desto mehr Kritiker gibt es", sagt Zimmerman. "Aber wenn ein ultraorthodoxer Jude im Krankenhaus liegt, ist er doch froh, dass der Arzt mit unseren Geräten die Sabbatruhe möglichst wenig verletzt."

Um Ärzten aus der Zwickmühle zu helfen, modifiziert das Institut nicht nur elektrische Geräte. Es hat auch kleine Extras wie den "Shab-et" entwickelt, einen Stift, dessen Tinte innerhalb von ein paar Tagen verschwindet. Das Tabu, am Sabbat zu schreiben, ist dabei nicht ausgehebelt, dafür aber angemessen verwässert. Besonders die Krankenpflege ist eine der religiösen Grauzonen, in denen sich die Ingenieure des Zomet-Instituts bewegen. Außer Frage steht, dass Lebensgefahr die Sabbatruhe sticht. Nur wie sieht es aus, wenn kein akuter Notfall besteht und es stattdessen schlichtweg um mehr Lebensqualität geht?

Das Paradestück für diesen Glaubenskonflikt ist ein modifizierter Elektrorollstuhl. Die moralische Frage ist schnell geklärt. Zwar sei es gebrechlichen Menschen natürlich gestattet, zu Hause zu beten statt in der Synagoge, sagt der Rabbi. Aber zu den Sabbatgeboten gehöre ja auch der Genuss und die Freude am Ruhetag, und damit Mobilität. Ein Rollstuhl kann also durchaus auch am Sabbat seine Daseinsberechtigung haben.

Umso komplizierter ist die technische Umsetzung. Ein Schlupfloch fanden die Ingenieure schlussendlich beim Propheten Jesaja. Es nennt sich "Gramma"-Prinzip und wird im Talmud als indirekte Aktion beschrieben, die erlaubt ist, wenn hoher finanzieller Verlust oder andere Schwierigkeiten zu befürchten sind. Wenn zum Beispiel ein Feuer ausbricht, das nicht lebensbedrohlich scheint, könne man eine Barriere aus mit Wasser gefüllten Lehmtöpfen aufstellen. Das ist erst mal eine zwecklose Handlung. Falls das Feuer sich weiter ausbreitet, platzen die Karaffen und das Feuer wird gelöscht.

Wichtig sei die Zeitverzögerung, erklärt der Rabbi. Ein Dominoeffekt soll in jedem Fall verhindert werden. Das heißt, die Handlung sollte von einem zweiten unabhängigen Faktor automatisch ausgelöst werden. Übersetzt ins 21. Jahrhundert: Man drückt einen Knopf, der keine direkte Auswirkung auf den Stromkreis hat. Allerdings scannt ein Mikroprozessor alle zwei Sekunden die Position des Knopfes, und schaltet je nachdem den Motor an oder wieder aus. Im Falle des Rollstuhls löst der Gramma-Schalter indirekt auch die Bremsen, sodass die Räder sich mit minimaler Geschwindigkeit zu Drehen beginnen, das Gewicht des Rollstuhlfahrers jedoch genug Reibung erzeugt, um sie zu blockieren. Mit dem Joystick verändert der Fahrer dann nur noch die vorhandene elektrische Spannung.

Eine Sabbat-konforme Lampe. (Foto: Jim Ross /The New York Times/Red)

Der 2017 verstorbene Gründer des Instituts Rabbi Ysrael Rozen betont in seinen detailreichen Ausführungen auf der Instituts-Homepage, dass zur Ausstattung des Rollstuhls ein Schild gehört. Es soll argwöhnischen Mitmenschen versichern, dass der Sabbatmechanismus von prominenten Rabbinern halachageprüft sei.

"Er war ein Fachmann für den jüdischen Glauben und genauso ein Experte für Technologie und für die Menschen", sagt Zimmerman über seinen früheren Chef. Auf Skepsis antwortet der Rabbi sowieso am liebsten mit persönlichen Geschichten. Deswegen zitiert er während der Führung im Institut auch den Dankesbrief eines neunjährigen Mädchens, das vor der Gramma-Modifizierung ihres Rollstuhls immer das Gefühl hatte "zu Stein zu erstarren", sobald die Mutter vor dem Sabbat die Kerzen anzündete. Oben in der Ausstellung hängt außerdem das Testimonial eines kanadischen Rabbis, der sich nach dem Kehlkopfkrebs seine elektronische Sprechhilfe für den Sabbatgottesdienst einrichten ließ. Um genügend Abnehmer muss sich das Institut jedenfalls keine Sorgen machen.

Streng genommen arbeitet das Zomet-Institut nicht nur an der Schnittstelle zwischen Tradition und Moderne, es wandelt auch auf dem schmalen Grat zwischen Idealismus und Geschäftswelt. Gründervater Rabbi Rozen hätte eigentlich ein reicher Mann sein müssen, sagt Zimmerman. Bis zu seinem zweiten Schlaganfall sei der frühere Chef ein Macher gewesen, nur eben kein Spendensammler. Vom Staat erhält das Institut angeblich nur Geld, wenn ein Produkt für die Öffentlichkeit übernommen wird. Als Non-Profit-Unternehmer können die Sabbatwissenschaftler auch keine Patente anmelden. Viele Erfindungen werden deshalb einfach gestohlen, sagt Zimmerman.

Mit dem zunehmenden Antisemitismus steigt die Nachfrage nach Sicherheitstüren und Kameras

Der neue Institutsleiter Rabbi Menachem Perl denkt trotzdem groß. Mit Rauschebart und Häkelkippa auf dem Kopf sitzt er in seinem Büro, das in einem Schlauch düsterer Kabuffs liegt, in denen Ingenieure an Werkbänken vor Haufen von Drähten, Halbleitern und Lötkolben sitzen. Prototypen und Einzelanfertigungen werden im Institut noch selbst hergestellt. Bei größerer Abnahme findet die Produktion inzwischen aber in China statt. Natürlich unter strenger Überwachung aus der israelischen Siedlung: Auch in Fernost dürfen keine Komponenten am Sabbat hergestellt werden.

Darauf verlassen sich auch Kunden in Deutschland. Gerade war Perl auf einer Konferenz für orthodoxe Rabbis in Düsseldorf eingeladen. Mit dem zunehmenden Antisemitismus wachse vor allem die Nachfrage nach Sicherheitstüren und Kameras für Synagogen, erzählt der Rabbi. In den Tüftlerwerkstätten fühlt er sich wohl, schon als Kind baute er Radios auseinander und untersuchte dann alles unter dem Mikroskop. Wie sein Vorgänger Rozen sieht er seine Aufgabe darin, Israel auch jenseits orthodoxer Haushalte zu einem jüdischen Staat zu machen. Die Gesetze der Halacha sollten überall angewendet werden können: im Krankenhaus, bei der Polizei, in öffentlichen Einrichtungen. Auch und vor allem beim Militär, wo er vor seiner Ausbildung zum Rabbiner diente. "Als 1948 die Unabhängigkeitserklärung verlesen wurde, war klar, es geht nicht ohne Technologie", sagt Rabbi Perl. Ganz auf die säkulare Welt will er sich trotzdem nicht verlassen.

Perl findet sogar, dass die jahrtausendealte Kultur der Sabbatruhe und ein erholter Start in die Woche zum heutigen Zeitgeist passe. "Noch vor ein paar Jahrzehnten ging es in den Industrienationen darum, wer am fleißigsten produziert, heute gewinnt, wer am effizientesten ist." Passend dazu führt der Rabbi auf seinem Computerbildschirm einige Präsentationen zu seinen Zukunftsvisionen vor: Drohnen, die orthodoxe Frauen nachts nach Hause begleiten könnten; oder die Weiterentwicklung von Apples smarter Brille.

Auf dem Tisch liegt außerdem noch ein schwarzes Kästchen. Eine seiner eigenen Erfindungen. Bei dem Apparat handelt sich um einen mobilen Gramma-Adapter. Statt im Aufzug auf den Knopf zu drücken, betätigt man den Schalter am Kästchen, woraufhin zeitverzögert ein Stift aus dem Gerät fährt, das man bei der Etagenwahl natürlich nahe genug an den Aufzugsknopf halten muss. "Ich war nie ganz glücklich damit", sagt Rabbi Perl. Weil es trotzdem immer wieder Bestellungen gab, ließ ihn das Thema nicht los. Schließlich kam die Idee, das Gerät einfach direkt am Aufzug anzubringen. Das stört dann auch die säkularen Israelis nicht.

Koscher quergedacht ist besonders die Diebstahlsicherung für den TorarollenSchrank. Anders als bei einer herkömmlichen Alarmanlage unterbricht der Dieb den Stromkreislauf nicht, wenn er die Tür öffnet - sondern verschließt ihn damit. Der Rabbi wiederum hat einen Schlüssel, mit dem er den offenen Stromkreislauf an einer weiteren Stelle unterbricht, bevor er die Torarollen herausholt. Man muss eben nur wissen, wo die Hintertürchen zu finden sind.

© SZ vom 19.01.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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