Süddeutsche Zeitung

Zivile Sicherheit:Die Katastrophe im Blick

Vom Umgang mit Katastrophen bis zu den Sicherheitsbedürfnissen einer alternden Gesellschaft - die Bundesregierung erweitert die Forschung zur zivilen Sicherheit. Doch dabei muss sie juristische, sozialwissenschaftliche und ethische Bedenken berücksichtigen.

Christopher Schrader

Der Verletzte ist blass, hat ein blaues Auge und eine tiefe, blutende Wunde an der linken Schläfe. Ein Feuerwehrmann beugt sich über ihn. Seine Fragen bleiben unbeantwortet, sein Gegenüber atmet, ist aber nicht ansprechbar.

Der Helfer tippt auf dem Bildschirm eines kleinen Computers herum, der den Verletzten in die Kategorie "Rot" einordnet: sofort noch am Ort des Unglücks zu behandeln.

Der Feuerwehrmann speichert die Daten auf einen Chip an einem Armband, das er dem Verletzten anlegt, klebt einen roten Aufkleber darauf, und bindet dem Bewusstlosen zur besseren Sichtbarkeit ein Stück rot-weißes-Signalband an den Arm. Seine Daten und Position erreichen im gleichen Moment das Lagezentrum der Hilfskräfte und damit Feuerwehr, Notärzte und Polizei.

Eine Frau im roten Blazer schaut interessiert zu: Annette Schavan, die Forschungsministerin. Die Szene ist nur gespielt, der Verletzte geschminkt, aber der Armbandchip funktioniert tatsächlich.

Schavan ist an diesem Mittwoch zu der Vorführung in die Feuerwache Tiergarten gekommen, um in Sichtweite des Bundeskanzleramts über das "Forschungsprogramm für die zivile Sicherheit" zu informieren. Dessen zweite Phase bis 2017 mit 55 Millionen Euro zu finanzieren, hat das Bundeskabinett kurz zuvor beschlossen.

Die Entwicklung des kleinen Computers für die Kategorisierung von Verletzten nach großen Unglücken gehörte zum ersten, soeben abgeschlossenen Teil des Forschungsprogramms. Wolf-Dieter Lukas, Abteilungsleiter für Schlüsseltechnologien im BMBF, erklärt, das Gerät solle nun den Innenministern der Länder vorgeführt werden.

"Sicherheit gehört zu den öffentlichen Gütern", sagt die Ministerin, "das ist eine zutiefst politische Aufgabe." Im zweiten Teil des Programms soll es nun unter anderem um die veränderten Sicherheitsbedürfnisse einer alternden Gesellschaft gehen sowie um die Erkennung von Pandemien und den Schutz der Bevölkerung vor Kriminalität.

Schavan ist dabei eine "Balance von Sicherheit und Freiheit" wichtig. Kein Ingenieur dürfe im Rahmen des Programms grenzenlos entwickeln, was technisch möglich ist. Schon in der Konzeption der Projekte müssten juristische, sozialwissenschaftliche und ethische Bedenken gehört werden.

In der EU will sich die Ministerin dafür einsetzen, der Position Deutschlands Gehör zu verschaffen. Schließlich ist das europäische Projekt "Indect" von Datenschützern kritisiert worden. Es versucht, aus Daten von Überwachungskameras Anzeichen für kriminelles Verhalten zu destillieren. Wenn jemand sich plötzlich umdreht und losrennt, könnte er gerade eine Handtasche geklaut - oder sich an einen vergessenen Termin erinnert haben.

Eine weitere Besonderheit der deutschen Sicherheitsforschung sei, dass die Nutzer selbst mitmachen, erklärt Wilfried Gräfling, Landesbranddirektor von Berlin. Zwar hat seine Behörde eine eigene Forschungsabteilung, die am Projekt zur Kategorisierung der Verletzten beteiligt war.

Aber die Begegnung der Forscher und Praktiker habe sowohl Praxisschock wie Theorieverwirrung ausgelöst. Eine gemeinsame Sichtweise mussten sie erst entwickeln. "Die Feuerwehr hat die Wissenschaft sozusagen mit der Drehleiter aus dem Elfenbeinturm befreit", sagt Gräfling.

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SZ vom 26.01.2012/mcs
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