Zivile Kriegsopfer im Irak:Streit um die Zahl der Toten

Die Bilanz der zivilen Kriegsopfer im Irak ist brisant. Kein Wunder, dass um die unterschiedlichen Zahlen zweier Studien in schrillen Tönen gestritten wird.

Christopher Schrader

Die Wörter "Autobombe" und "Irak" haben sich in den Fernseh- und Zeitungsnachrichten längst fest verbunden. "Bei der Explosion einer Autobombe sind in Bagdad elf Menschen gestorben, mehr als 60 wurden von Splittern und Trümmern verletzt", heißt es dann. Oder knapper: 20 Tote, 33 Verletzte.

Zivile Kriegsopfer im Irak: Gewalt ist für viele Zivilisten im Irak eine alltägliche Erfahrung.

Gewalt ist für viele Zivilisten im Irak eine alltägliche Erfahrung.

(Foto: Foto: Reuters)

Oder dramatischer: Neun Iraker haben bei einem Anschlag das Leben verloren, 30 kämpfen in Krankenhäusern noch darum. Kaum jemand kann noch den Überblick behalten, wie viele Zivilisten als Folge von Krieg und Bürgerkrieg im Irak gestorben sind. Auch nicht die Helfer vor Ort: "Wir zählen das nicht, wir haben andere Aufgaben", sagt Dorothea Krimitsas vom Internationalen Roten Kreuz.

Doch die Bilanz ist brisant und hochpolitisch. Kein Wunder also, dass um die wenigen Versuche, die Zahl der Opfer zu bestimmen, in schrillen Tönen gestritten wird. Die Debatte wird in diesen Tagen durch zwei neue Veröffentlichungen angeheizt.

Zum einen hat die Welt-Gesundheitsorganisation (WHO) eine Studie veröffentlicht, wonach allein zwischen der Invasion im März 2003 und Ende Juni 2006 etwa 151.000 Iraker durch Gewalteinwirkung gestorben sind. Und in diese Phase fallen noch nicht einmal die blutigsten Konflikte zwischen den Bevölkerungsgruppen der Sunniten und Shiiten.

Zum anderen behauptet das amerikanisches Magazin National Journal in einem langen Artikel, es gebe gravierende methodische Mängel und andere Ungereimtheiten in einer früheren Studie: Deren Autoren hatten für den gleichen Zeitraum 601.000 zivile Gewaltopfer und weitere 54.000 Todesfälle durch indirekte Kriegsfolgen errechnet und damit großes Echo in der Weltpresse gefunden.

"Es war ein Wendepunkt für die Einstellung zum Krieg", sagte der Meinungsforscher John Zogby im TV-Sender CNN. "Die Studie wurde nicht hinterfragt, weil sie der Presse erzählte, was die hören wollte", grollt nun das Wall Street Journal in einem Kommentar. In der Debatte geht es auch um den Ruf der medizinischen Fachzeitschrift The Lancet, die diese erste Studie veröffentlicht hatte.

Viele Gewaltopfer nicht erfasst

Wer sich für Todesfälle im Irak interessiert, kann nicht in ein wohlgeführtes Amt gehen und die im Archiv verwahrten Totenscheine auswerten. Die öffentliche Verwaltung funktioniert nicht einmal im Ansatz, viele Gewaltopfer werden von keiner Behörde erfasst. Darum haben die beiden Forscherteams ihre Daten mit Hilfe einer Tür-zu-Tür-Befragung erhoben. Und ein Teil des Streits handelt davon, wie man so etwas in einem Land wie dem Irak repräsentativ macht.

Die erste Gruppe, die aus drei Amerikanern von der angesehenen Johns Hopkins School of Public Health in Baltimore und einem irakischen Arzt besteht, hat aus allen Provinzen des Landes 50 Regionen nach dem Zufallsprinzip herausgesucht. Dort wollten die Forscher jeweils 40 Haushalte in einer zufällig gewählten Nebenstraße befragen, ob Familienmitglieder zwischen Januar 2002 und Juni 2006 gestorben sind.

Tatsächlich haben die beiden beauftragten Teams aus lokalen Mitarbeitern im Irak nur 47 Nachbarschaften und 1849 Haushalte besucht, in denen ihnen von 547 Todesfällen seit der Invasion der Amerikaner berichtet wurde. Davon hätten 300 eine gewaltsame Ursache gehabt, erfuhren die Befrager. Jeder der erfassten 12.801 Menschen stand dann für etwa 2000 Iraker, sodass sich die Zahl von gut 600.000 Gewaltopfern ergab (The Lancet, 11. Oktober 2006).

Bei der WHO-Studie sind die Forscher ähnlich vorgegangen, allerdings mit mehr Aufwand: Sie haben mit 200 Teams in 971 Nachbarschaften 9345 Haushalte nach Gesundheit, Krankheit und Tod befragt. In diesen Familien, in denen 61.136 Menschen lebten, waren seit der Invasion 260 Menschen an Verletzungen gestorben. Daraus kalkulierte das Team um Mohamed Ali von der WHO in Genf mit einigen Korrekturfaktoren seine Schätzung von 151.000 Gewaltopfern (New England Journal of Medicine, online).

Jeder kann sich nach seiner Überzeugung bedienen

Diese Zahl beträgt ein Viertel der im Lancet veröffentlichten Hochrechnung, liegt aber dreimal so hoch wie die Bilanz der britischen Menschenrechtsgruppe Iraq Body Count (IBC), die für den Zeitraum bis Mitte 2006 genau 47.668 zivile Tote gezählt hat.

Die Organisation, die der amerikanischen Politik kritisch gegenübersteht, wertet systematisch Medienberichte aus. Ihre Zahlen liegen also mit Sicherheit zu niedrig, weil die Presse nicht das ganze Land im Auge hat und nicht über jeden Anschlag berichtet.

Streit um die Zahl der Toten

In diesem Spektrum der Zahlen kann sich jeder nach seiner politischen Überzeugung bedienen. Präsident George W. Bush zum Beispiel hat in der Vergangenheit Zahlen genannt, die denen der Menschenrechtsgruppe ähneln, der demokratische Senator Ted Kennedy und andere Kriegsgegner hingegen mit den Daten der Forscher aus Baltimore operiert. Nicht zuletzt sind diese Zahlen offenbar auch von arabischen Gruppen in ihrer antiamerikanischen Propaganda kolportiert worden.

Nach den Vorwürfen im National Journal hat Politik aber schon beim Erstellen der Lancet-Studie eine Rolle gespielt. Die beiden amerikanischen Hauptautoren seien als Kriegsgegner bekannt ebenso wie der Auftraggeber, sowie der Finanzier, der Milliardär George Soros. Der Chefredakteur des Lancet teile die politischen Ansichten. Allen weist der Bericht das Attribut "leftist" (linksgerichtet) zu, das im amerikanischen Sprachgebrauch oft eher ausgespuckt als ausgesprochen wird.

Dazu kommen im National Journal Zitate der Akteure, die für amerikanische Ohren wie kommunistische Subversion klingen, in Europa aber ins demokratische Spektrum gehören, etwas auf dem linken Flügel der SPD.

Originalfragebögen werden nicht herausgegeben

Der Schlussstein für diese Kritiklinie ist, dass die Autoren ihre Studie unbedingt vor den amerikanischen Wahlen veröffentlicht haben wollten, und der Lancet mitgemacht hat. Alle Beteiligten haben das dem National Journal zufolge eingeräumt, finden es aber nicht unmoralisch. Dass dies schon ein Mangel der Studie sei, können die Autoren des Magazin-Stücks nicht belegen, sie säen nur Zweifel an der Neutralität der Forscher.

Konkreter wird die Kritik beim Umgang mit den Daten. Die Autoren der Lancet-Studie weigern sich, die Originalfragebögen herauszugeben, damit Kollegen ihre Auswertung prüfen können. Offenbar waren die Befrager im Irak ohne Aufsicht durch die amerikanischen Autoren unterwegs. Sie haben auch keine allgemeinen Daten über die Familien erhoben, an denen man die Konsistenz der Daten ablesen könnte.

Manche der Details machten stutzig, so das National Journal, seien aber dem Lancet und seinen Gutachtern nicht aufgefallen. Die Redaktion habe auch nicht darauf bestanden, die Originaldaten zu sehen. Die Größe ihrer Stichprobe hatten die Forscher eigenen Angaben so ausgelegt, dass sie damit die nach einer Vorstudie erwartete Verdopplung der normalen Sterblichkeit nachweisen konnten (tatsächlich berichten sie von einer 142-prozentigen Erhöhung). Für einen kleineren Effekt hätte die statistische Kraft ihrer Studie demnach nicht ausgereicht.

Kritik vom Iraq Body Count

Noch andere Kritik an den Zahlen üben die Beobachter vom Iraq Body Count (IBC). Für die erste Hälfte des Jahres 2006 hatten die Autoren etwa 1000 Tote pro Tag berechnet. Die Menschenrechtler hatten aber nur etwas weniger als 80 Opfer gezählt - der Presse, auf die sich die Bilanz stützt, hätten also jeden Tag über 900 Todesfälle oder 180 Anschläge entgangen sein müssen, davon etwa 20 Autobomben-Attacken.

Streit um die Zahl der Toten

Ein weiterer Punkt, der die Ergebnisse unplausibel macht: Angeblich haben die Befrager der Lancet-Studie bei der überwiegenden Zahl der registrierten Todesfälle Totenscheine eingesehen. Wenn das aber stimme, so die Mitarbeiter von Iraq Body Count, müssten die Behörden des Landes eine halbe Million Totenscheine ausgestellt haben, die in keiner offiziellen Statistik auftauchen.

Doch auch die Untersuchung der WHO ist nicht frei von Kritikpunkten. Der wichtigste betrifft die 1150 ausgewählten Haushalte, die die Interview-Teams aus Sicherheitsgründen nicht besuchen konnten.

Diese Familien lebten in den Stadtteilen und Regionen, wo wahrscheinlich überdurchschnittlich viele Menschen Opfer der Gewalt werden, also durften die Wissenschaftler diese Nachbarschaften nicht einfach ignorieren. Um die Todeszahlen der gefährlichen Gegenden aus benachtbarten, besuchten Gebieten hochzurechnen, hat sich die WHO auf Relationen gestützt, die sie aus den Daten des IBC entnommen hat.

So hat sie in Bagdad zum Beispiel die Daten der besuchten Haushalte mal vier genommen und den fehlenden, gefährlichen zugewiesen. Doch ob dieses Verfahren vernünftig ist, wenn die Daten des Iraq Body Count die Lage systematisch untertreiben, kann niemand nachvollziehen.

Korrekturen sind nötig - aber um welchen Faktor?

Hinzu kommt, dass die WHO-Forscher unbewohnte Häuser systematisch ignoriert und in ihrer Stichprobe ersetzt haben. Dabei muss man sich fragen, ob die Familien der leeren Behausungen nicht eher Gewalt erlebt haben und dann geflohen sind als die Zurückgebliebenen. Diese Einflüsse, versichert Mohamed Ali, seien im bereinigten Schätzwert der WHO rechnerisch korrigiert worden.

Diese Art der Argumentation, mit denen die Ergebnisse bewertet werden, zeigt schon, wie schwierig jede wahrheitsgemäße Bilanz der Ereignisse im Irak sein wird. Auch wer zum Eindruck gelangt, die Daten der Lancet-Studie müssten deutlich nach unten, die der WHO-Studie ein wenig nach oben korrigiert werden, weiß immer noch nicht, um welchen Faktor.

Zumal verblassen die Angaben womöglich, wenn einmal die Toten seit Mitte 2006 bilanziert werden. Der aktuelle Wert beim Iraq Body Count liegt bei bis zu 88.000 Toten. Besonders interessant daran ist die Relation: In den vergangenen anderthalb Jahren hat die Zahl der Toten also 85 Prozent der Angabe für die gut drei Jahre davor erreicht. Daher sind sich alle Beteiligten, bei allen sonstigen Differenzen einig: Was im Irak passiert, ist eine humanitäre Katastrophe.

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