Süddeutsche Zeitung

Zerstörung und Entwicklung:Katastrophe als Katalysator

Das Erdbeben und der Tsunami in Japan haben einmal mehr gezeigt, dass auch die moderne Gesellschaft anfällig für Katastrophen bleibt. Doch können diese überfällige Entwicklungen anstoßen.

Christian Weber

Die Konferenz begann mit einer kleinen Katastrophe, was aber ganz gut zum Thema passte: Das Freiburger Institute for Advanced Studies (Frias) hatte für den Auftakt des "Katastrophen" betitelten Symposiums Florin Diacu aus Kanada eingeflogen - einen preisgekrönten Mathematiker, der soeben ein Buch zum Thema veröffentlicht hatte. Das Publikum erwartete Brillanz und überraschende Einsichten. Es bekam einen müden, belanglosen Seminar-Vortrag ohne Dramaturgie und ohne eigene Gedanken, wie ihn ein Pennäler aus Wikipedia hätte zusammenstoppeln können.

Aber zugleich war der missratene Auftakt ein passender Einstieg, demonstrierte er doch anschaulich zwei Einsichten der einschlägigen Forschung: Es ist geradezu das Wesen der Katastrophe, dass sie trotz aller Planung plötzlich und unerwartet kommt. Und: Meist geht es nach dem schrecklichen Ereignis irgendwie weiter - mitunter sogar besser als zuvor.

So war es auch in der Freiburger Aula, wo sich Sozialwissenschaftler und Ingenieure, Informatiker und Psychologen, Linguisten und Geografen am Ende der vergangenen Woche trafen, um dem Wesen der Katastrophe nachzuspüren. Trotz der Divergenz der Fächer kam die Mehrzahl der Vortragenden zu einer gemeinsamen Einsicht: Auch und gerade in der Moderne wird die Gesellschaft Erdbeben, Wirbelstürme oder technische Großkatastrophen weder abschaffen noch rechtzeitig voraussagen können.

Umso wichtiger sei es, dass man sich über den Umgang mit ihnen verständigt, versteht, wie sie funktionieren und aus ihnen lernt. Denn das war die gute Botschaft der Konferenz: So häufig auch Naturgewalten und menschengemachte Katastrophen auf diesem Planeten zuschlagen, waren alle bisherigen Nachrichten vom Weltuntergang etwas übertrieben. Manchmal bewirken Katastrophen sogar positives. Provokant fragte der Historiker Jörn Leonhard: "Sind Katastrophen vielleicht sogar notwendig?"

Interessanterweise ist die Idee von der Apokalpyse als Weltende eine moderne Erfindung, wie Bernd Schipper von der Berliner Humboldt Universität in seinem Vortrag über die Johannes-Offenbarung des Neuen Testaments verdeutlichte. "Früher im Christentum war die Apokalypse nur ein Zwischenschritt zu künftigen Welt", erläuterte der Theologe. "In einem Moment, wo durch Menschenhand keine Besserung mehr möglich ist, muss die Gottheit die Uhr zurückdrehen und nochmals anfangen." Danach kann Johannes verkünden: "Und ich sah einen neuen Himmel und eine neue Erde."

So waren die christlichen Apokalyptiker schon vom Gefühl her besser dran als die säkularen Propheten des Weltuntergangs: Erstere glaubten ohnehin an die von der Bibel vorausgesagte Endzeit und vertrauten als Anhänger der richtigen Seite auf ein besseres Leben danach. Der agnostische Katastrophiker hingegen muss auf Verbesserung der Erstwelt drängen.

Überhaupt tut sich der religiöse Mensch leichter mit der Deutung von Katastrophen, wie auch Wolf Dombrowsky von der Universität Kiel ausführte. "Im religiösen Weltbild kann man das Scheitern immer als Ungehorsam gegenüber Gott deuten", sagte der Soziologe. "Im modernen Weltbild hingegen ist das Scheitern die Real-Falsifikation im Sinne von Karl Popper." Es ist der Beleg, dass man Fehler gemacht hat, vielleicht sogar das System nicht versteht.

Insofern ist es kein Wunder, dass die moderne Menschen zunehmend versuchten, Katastrophen "in den Griff zu bekommen", berichtet der Historiker François Walter von der Universität Genf. Die Gesellschaften des 16. bis 18. Jahrhunderts wappneten sich mit Bannwäldern und Brandschutzmaßnahmen gegen Lawinen und Feuer. Im 19. und 20. Jahrhundert versuchte man dann den Umweltkatastrophen vor ihrer Entstehung vorzubeugen.

Die Beherrschung der Natur wurde Endzweck der Gesellschaft. Derzeit versuche man, Risiken zu berechnen, zu managen und Schwellenwerte festzulegen. Doch gerade Fukushima habe gezeigt, dass das derart eingehegte Restrisiko nicht nur eine Metapher ist.

Einig waren sich fast alle Redner, dass komplexe Risiken, die herkömmlichen der Natur und die neuen der Technik, nur sehr begrenzt vorhersagbar sind, wenn überhaupt. Relativ einfach ist es immer, wenn die Bewegungsgesetze der Newtonschen Mechanik anwendbar sind; der Aufprall eines Meteoriten lässt sich relativ gut voraussagen.

"Eine sichere Erdbebenvorhersage ist hingegen schlicht und ergreifend nicht möglich", versicherte der Physiker Jens Timmer. Denn bei der Plattentektonik handelt es sich um ein nichtlineares System, wo kleine Änderungen größte Folgen haben können und Anfangsbedingungen, Kräfte und Dynamiken nicht ausreichend bestimmt sind. "Wir kennen weder genaue Massen, Dichten, Gesteinsarten, Lagen oder Temperaturen."

Neu sei nun, dass auch menschengemachte Systeme komplex geworden sind. "Nur im Newton-Bereich werden wir immer besser", warnt Katastrophenforscher Dombrowsky. "Daneben schaffen wir uns Systeme, die wir nicht mehr verstehen - der Besen des Zauberlehrlings tanzt bereits."

Auch Geschwindigkeit ist ein Thema, bemerkte der Ingenieur Klaus Thoma, Direktor am Fraunhofer-Institut für Kurzzeitdynamik in Freiburg: "Ein Zug, der mit 30 Stundenkilometer zuckelt, merkt eine Gleisverschiebung von einem Zentimeter gar nicht; ein ICE mit 300 Stundenkilometern entgleist." Eine entsprechend gewachsene Vulnerabilität finde sich überall in verstädterten und hochvernetzten Gesellschaften mit kritischen Infrastrukturen.

Thoma selbst ist deshalb an einem von der Bundesregierung unterstützten Sicherheitsforschungsprogramm beteiligt, dass sich diesen Problemen widmet. In diesem sollen im Idealfall resiliente Strukturen entwickelt werden, die nicht nur der Katastrophe vorbeugen, sondern sie überstehen. Denn das ist der neue Ansatz: "In der Sicherheitsforschung geht man heute davon aus, dass der Ernstfall eintritt."

Dabei bemängelten viele Experten, dass die Gesellschaft nur unzureichend auf die kommenden Katastrophen vorbereitet sei. "In Afrika sind wir mit der Risikoanalyse weiter als in Deutschland", schimpfte etwa Johannes Richert, der beim Deutschen Roten Kreuz für die internationale Zusammenarbeit zuständig ist.

Das unübersichtliche Geflecht der Verantwortungen und Zuständigkeiten erschwere die Übersicht; selbst rechtliche Fragen in Notsituationen seien ungeklärt, betonte der Jurist Walter Perron: Wenn etwa ein Hilfsteam vor zwei einsturzgefährdeten Häusern mit eingeschlossenen Menschen stehe, sei unklar, wem zuerst geholfen werden muss. Sicher ist nur, dass es nicht nach der Zahl der zu rettenden Menschen gehen darf; utilitaristische Prinzipien erlaubt das deutsche Recht nicht: Selbst wenn ein von Terroristen entführtes Flugzeug auf ein AKW zufliegt, darf es nicht abgeschossen werden.

Nötig sei aber, auch die gesellschaftlichen Folgewirkungen einer Katastrophe stärker zu reflektieren, die quer um den Globus gehen. Wer hätte sich vor ein paar Jahrzehnten vorstellen können, das eine Erdbewegung im Pazifik zu Erschütterungen in der politischen Landschaft im Südwesten Deutschlands führt?

Zumindest instrumentalisiert wurden Katastrophen schon immer. Mit den Frostkatastrophen der kleinen Eiszeit im Mittelalter wurden Hexenverfolgungen gerechtfertigt. Umgekehrt "gewannen alle modernen Nationen ihre Identität durch die Bewältigung von Katastrophen", versicherte der Literaturwissenschaftler Peter Utz von der Universität Lausanne: "Auf den Trümmern hisst man die Fahnen." Und wenn es, so wie in der Schweiz, keine Kriege mit den Nachbarn gab, setzte man halt auf die Katastrophen der Berge - Lawinen und Muren.

Man dürfe natürlich nie die Opfer und Leiden vergessen, sagte auch der Soziologe Jörg Bergmann von der Universität Bielefeld, aber es lasse sich kaum bestreiten, dass Katastrophen häufig auch wichtige soziale Wandlungsprozesse anstoßen: "Eigentlich braucht die Gesellschaft Katastrophen."

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Quelle:
SZ vom 10.05.2011/mcs
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