Zehn Jahre nach der Elbflut:Alles im Fluss

Seit der Flutkatastrophe im Jahr 2002 versprechen die Politiker in der Region Mittelelbe, das Wasser zu zähmen. Doch der Elan schwindet. Es konkurrieren zwei Denkschulen: Die einen wollen den Strom durch höhere Deiche einsperren, die anderen ihm Platz lassen in der Natur

Marlene Weiss

Der Übeltäter sieht unschuldig aus. Es ist ein sanfter, lang gezogener Wall, wenige Meter hoch, mit hohem Gras und Schafgarben bewachsen. Rechts und links von diesem alten Deich ist dichter Wald. Und da fängt für Guido Puhlmann das Problem schon an. "Das hier ist das Allerheiligste der Auenwälder", sagt der Leiter des Biosphärenreservats Mittelelbe, während er die Deichkrone beim Ort Lödderitz in Sachsen-Anhalt abläuft. "Aber rechts mit Hochwassereinfluss, links ohne." Rechts: wie es früher überall hier war, überflutet, wenn die Elbe über die Ufer tritt. Links: halbwegs unter Kontrolle.

Die Jahrhundertflut richtete im Jahr 2002 vielerorts verheerende Schaeden an.

20 Tote und Schäden in Höhe von neun Milliarden Euro verursachte die Rekord-Elbflut 2002.

(Foto: dapd)

Auf den ersten Blick sehen beide Seiten ziemlich gleich aus. Aus dem Wald quäkt es, "ein Mittelspecht", sagt Puhlmann reflexartig; er ist Hobby-Ornithologe. Er hat hier in der Gegend seit 1994 gegen diese Rechts-links-Trennung gekämpft. Mit Erfolg: Einen Kilometer weiter arbeiten Bagger seit 2010 an einem neuen Deich im Hinterland. 2018, wenn er fertig ist, wird der alte Deich stellenweise geöffnet. Die Elbe wird er dann nicht mehr zurückhalten.

Sechs Quadratkilometer Überflutungsfläche soll der Fluss hier zurückbekommen. Für die Elbe ist das wenig: Früher konnte sie in Flutzeiten ihr Bett hier auf mehr als zehn Kilometer ausweiten. Aber für die Bauern, die ihre Acker verkaufen sollten, und für die Anwohner, die Angst vor Wasser im Keller haben, ist es viel. Es prallen zwei Denkschulen aufeinander an der Mittelelbe: Die einen wollen die Gewalt des Wassers zähmen, indem die Deiche höher und stärker werden; und die anderen, die Naturschützer, wollen der Elbe Platz zugestehen, Platz an Land.

Erst recht nach dem katastrophalen Elbhochwasser im August 2002 bewegte das Thema die Region; danach wollten alle nur höhere Deiche, und zwar sofort. "Damals ist die Stimmung umgekippt, wir wurden regelrecht geschlachtet", sagt Puhlmann, er klingt verständnisvoll. Aber es muss hoch hergegangen sein. Mitstreiter erzählen von angetrunkenen Krachschlägern, von verhörartigen Fragestunden bis Mitternacht in ungeheizten Räumen. 2009 genehmigte das Landesverwaltungsamt von Sachsen-Anhalt den Beginn der Arbeiten, trotz laufender Klagen, nach 15 Jahren Vorarbeit. Ein hohes Stakkato ertönt. "Ein Kleinspecht", sagt Puhlmann kundig.

Dabei geht es bei den Deich-Rückverlegungen ebenfalls um Hochwasserschutz, aber es ist die Öko-Variante. Umweltschützer fordern, dem Fluss Überflutungsflächen zurückzugeben. Als Hochwasserschutz, und um wertvolle Natur zurückzugewinnen: die regelmäßig überfluteten Flussauen. Einst bedeckten sie fünf Prozent der Fläche Deutschlands. Übrig ist von diesen Überflutungsflächen etwa ein Drittel, an den großen Flüssen nur zehn bis 20 Prozent; nur ein Bruchteil davon halbwegs intakt. Aber das, was von den Auen übrig ist, ist noch immer ungeheuer artenreich. Von irgendwoher kommt ein metallisches Geräusch. "Schlagschwirl", sagt Puhlmann, noch so ein Vogel.

Mit Guido Puhlmann ist Hans-Werner Uhlmann vom Landesbetrieb für Hochwasserschutz von Sachsen-Anhalt auf dem Deich unterwegs; das gäbe Stoff für Namenswitze, aber die beiden sind nicht so die Typen für Blödeleien. Ein Kormoran fliegt vorbei, Puhlmann hat das bestimmt registriert. Der Ingenieur Uhlmann dagegen sieht eher das Konstruktionsproblem in der Deichidylle. "Hier finden Sie keine vernünftige Trasse", sagt er. "Der Deich macht scharfe Kurven, das kann man nicht verteidigen und nicht befestigen." Vor zehn Jahren mussten die Sandsäcke hier mangels Zufahrtswegen mit dem Fahrrad angefahren werden - romantisch, aber langsam. 17 große Deichbrüche hat es beim Hochwasser 2002 allein in Sachsen-Anhalt gegeben.

Aus Hochwasserschutz-Sicht ist es daher doppelt sinnvoll, den Deich zu verlegen: Im Hinterland ist Platz für einen besseren, der modernen Normen entspricht.

"Die gleiche fatale Sprirale wie immer"

60 Meter ist die Trasse breit, der Deich muss zugänglich sein. Wenn man die gerodeten Flächen und die riesige Baustelle sieht, könnte man meinen, da werde eine Autobahn durch den kostbaren Wald mitten im Biosphärenreservat gezogen.

17 Hektar Wald mussten weichen.

Ob das ausreicht? Wenn man Georg Rast danach fragt, im geschützten Wald am Elbufer, den Touristen nicht betreten dürfen, kann man leicht verzweifeln. Der energische Bayer mit emporstehenden grauen Haaren ist Hochwasserexperte des WWF, Projektträger der Deich-Rückverlegung. Er ist insgesamt noch lange nicht zufrieden mit den Fortschritten beim Öko-Hochwasserschutz. "Wir fahren die gleiche fatale Spirale weiter, die wir schon seit 100 Jahren fahren", sagt Rast. Nach jedem Hochwasser würden schnell die Deiche verstärkt. Dann kommt das nächste Hochwasser, bei dem dann weniger Deichbrüche weiter oben am Fluss Entlastung bringen. Also wieder: Deiche verstärken. Es hat etwas von einem Wettrüsten. Wer den schwächsten Deich hat, verliert, egal, ob dahinter eine Stadt oder ein Acker liegt.

Dabei war man sich nach dem Hochwasser von 2002, mit 20 Toten und Schäden in Höhe von neun Milliarden Euro, eigentlich einig, dass im Hochwasserschutz etwas anders werden müsse. "Den Flüssen mehr Raum geben", war ein Fazit der Flusskonferenz der Bundesregierung im Herbst 2002. Und heute? Der Elan bei den Projekten schwindet zunehmend. 20 Deich-Rückverlegungen mit mehr als 30 Quadratkilometern Flutungsfläche und fünf Flutungspolder, die nur bei Bedarf unter Wasser gesetzt werden, waren ursprünglich am deutschen Teil der Elbe vorgesehen. Fertig sind gerade mal zwei Deich-Rückverlegungen, die zusammen knapp so viel Fläche wie das Großprojekt bei Lödderitz bringen. Eine weitere ist in Arbeit, alle anderen sind erst in Planung - zum Teil nur als Polder - oder in ferne Zukunft gerückt.

Gleichzeitig wurden jedoch nach dem Hochwasser überall Deiche repariert und verstärkt, auch finanziert aus dem Elbe-Aufbauhilfefonds. Ein neues Hochwasser kann sich dadurch weniger leicht Platz verschaffen. Alle geplanten Flutungsflächen zusammen sollen nach Berechnungen der EU-Kommission den Hochwasserpegel um maximal 74 Zentimeter absenken. Georg Rast schätzt, dass sie gerade die Deichertüchtigungen kompensieren würden.

Aber ihm geht es nicht nur um die Deiche, für ihn gibt es an der Elbe noch viel mehr zu korrigieren. Im Auenwald schneiden die Projektmitarbeiter die Rinde von Bäumen ein, die nicht hierher gehören, damit sie absterben: die amerikanische Esche zum Beispiel, die andere Arten verdrängt. Oder die Hybridpappeln, die zu DDR-Zeiten hier als Nutzholz angebaut wurden. Stattdessen werden eigens angezogene Eichen gepflanzt.

Am Elbufer ragen in kurzen Abständen bewachsene Landzungen in den Fluss hinein. Sie bilden Buchten und kleine Sandstrände, ein paradiesischer Anblick - für unvoreingenommene Betrachter. "Hier sollten Kies- und Sandbänke sein, die der Fluss umschichtet, da fehlt etwas", sagt Georg Rast grimmig. Das Geschiebe funktioniert nicht mehr. Die Landzungen wurden seit den 30er-Jahren angelegt, damit die Strömung sich auf die Schifffahrtsrinne konzentriert und der Fluss dort tiefer ist. Auch deshalb gräbt die Elbe sich immer tiefer in ihr Bett ein, was ringsum das Grundwasser sinken lässt, fatal für die Natur.

Viel Schifffahrt gibt es hier aber nicht mehr. Das Wasser gerät in Bewegung, ein weißes Bötchen mit der Aufschrift Harald Juhnke tuckert vorbei. Es ist erst das zweite an diesem Tag.

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