Ob ein unbekannter Mensch vertrauenswürdig wirkt, darüber urteilt das Gehirn in Bruchteilen eines Augenblicks. Nach weniger als den ersten gemeinsamen 100 Millisekunden hat sich ein Eindruck verfestigt: vertrauenswürdig, verschlagen, zuverlässig oder hinterlistig. Ob dieses Urteil auch zutrifft? Wahrscheinlich nicht – warum sollten auch die Gesichtszüge das Wesen eines Unbekannten offenbaren?
Aber Gegenfrage: Wie können Menschen denn sonst zu einem schnellen Urteil darüber gelangen, ob sie einem anderen vertrauen? „Fehlen spezifische Informationen über ein Individuum, dann nutzen Menschen vermutlich Stereotype, um dessen Vertrauenswürdigkeit einzuschätzen“, schreiben Wissenschaftler um Mélusine Boon-Falleur von der Universität Sciences Po in Paris im Fachblatt Social Psychological and Personality Science. In ihrer Studie beschreiben die Forscher einen Faktor, der das Urteil über Unbekannte offenbar kulturübergreifend mitprägt: den Wohlstand der betreffenden Person. Arme Menschen gelten demnach meistens als weniger vertrauenswürdig als besser situierte Personen.
Die Wissenschaftler um Boon-Falleur sammelten für ihre Studie Daten aus Brasilien, Kolumbien, der Demokratischen Republik Kongo, Indien, Nigeria, den Philippinen, Frankreich und Großbritannien. Zunächst ließen sie die Teilnehmer ihrer Studie einzelne Fotos beurteilen, auf denen eingerichtete Zimmer zu sehen waren. Anhand der Fotos, so zeigten die Ergebnisse, konnten die Studienteilnehmer mit einiger Verlässlichkeit den Grad des Wohlstands der Haushalte einschätzen, deren vermeintliche Besitztümer auf den jeweiligen Bildern abgebildet waren. In einem zweiten Schritt sollten die Probanden dann darüber Auskunft geben, ob die Bewohner des Raumes einen kooperativen Charakter hätten, ob sie sich hilfsbereit verhalten würden und ob diese hypothetischen Personen mit einem hohen Maß an Selbstkontrolle ausgestattet seien. Diese drei Bereiche, so argumentieren Boon-Falleur und ihre Kollegen, beschrieben das Konzept „Vertrauenswürdigkeit“ recht gut.
Misstrauen wirkt wie eine Steuer auf alle Transaktionen
Das Urteil über die Vertrauenswürdigkeit der vermeintlichen Bewohner der abgebildeten Zimmer hing davon ab, wie wohlhabend der jeweilige Haushalt zu sein schien. Je größer der Besitz, desto größer war auch der Vertrauensvorschuss, den die Probanden erteilten. Dieses Resultat war unabhängig davon, wie wohlhabend die Teilnehmer selbst waren, schreiben die Forscher um Boon-Falleur. Diese Arm-Reich-Stereotype wirkten demnach unabhängig von der sozialen Stellung jener, die das Urteil sprachen – und zwar in allen Ländern, von Brasilien über Indien bis Frankreich.
Ob wohlhabenden Menschen aber zu Recht ein Vertrauensvorschuss gewährt wird, lässt sich nicht sagen. Die Studienlage zu dieser Frage falle uneindeutig aus, berichten die Wissenschaftler in Social Psychological and Personality Science. Manche Studien legten nahe, dass gut situierte Menschen sich eher prosozial und kooperativ verhielten; andere Studien wiesen in die Gegenrichtung, so die Forscher um Boon-Falleur.
Was allerdings sicher ist: Gesellschaften profitieren von einem hohen Maß an interpersönlichem Vertrauen. Länder, in denen die Menschen einander einen entsprechend hohen Vorschuss geben, sind im Schnitt stabiler, friedlicher und eher demokratisch regiert, schreibt Boon-Falleur. Der gemessene Grad an generellem Vertrauen variiert stark zwischen Gesellschaften. Laut dem World Value Survey, einer weltweiten Erhebung zu Werten und Einstellungen, geben zum Beispiel weniger als zehn Prozent der Befragten in Kolumbien, Brasilien, Ecuador oder Peru an, dass den meisten Menschen zu trauen sei. Am anderen Ende des Spektrums stehen Staaten wie Norwegen oder Schweden, in denen laut World Value Survey mehr als 60 Prozent angeben, an das Gute im Mitmenschen zu glauben.
Wie ausgeprägt das Grundvertrauen in andere in Gesellschaften ist, zeigt natürlich Auswirkungen. „Verbreitetes Misstrauen in Gesellschaften wirkt wie eine Steuer auf sämtliche ökonomischen Aktivitäten – eine Steuer, die Länder mit ausgeprägtem Grundvertrauen nicht zu entrichten haben“, schrieb der Politikwissenschaftler Francis Fukuyama einmal dazu. Wenn Vertrauen aber mit Wohlstand korreliert, kann sich daraus eine Negativspirale entwickeln: Armut reduziert Vertrauen und das erschwert den Ausweg daraus.