Süddeutsche Zeitung

Wissenschaftskommunikation:Gene auf die Bühne

Bei Bier und Limo über Darmbakterien, Neurobiologie und physikalische Phänomene diskutieren? Veranstaltungen, bei denen Wissenschaftler sich an Laien wenden, haben enormen Zulauf.

Von Jing Wu

Der Raum ist voller Menschen und der Kühlschrank voller Getränke, Bier, Apfelschorle, Wasser. Die Organisatoren am Eingang weisen jeden kommenden Gast darauf hin, sich doch bitte am Kühlschrank zu bedienen. An diesem Donnerstag ist der Andrang groß. Studenten und Berufstätige, Deutsche, Russen, Chinesen. Sie alle sind in die Elsenheimerstraße 47 in München gekommen, sitzen da nun in den Räumen des Software-Unternehmens JetBrains und warten darauf, dass "15x4" losgeht - so heißt die monatlich stattfindende Veranstaltungsreihe, bei der vier Referenten jeweils 15 Minuten lang einen Vortrag zu einem wissenschaftlichen Thema halten. Inhaltliche Vorgaben gibt es nicht: Leute referierten bei "15x4" über Epigenetik, erklärten die Spieltheorie genauso wie die Entdeckung des Heliums, sprachen im Großen über das Universum und im Kleinen über Fruchtfliegen.

Das Format stammt aus der Ukraine. Mittlerweile finden die Veranstaltungen auch europaweit an etwa 20 Orten statt, vor einem Jahr zum ersten Mal in Deutschland. "15x4" ist aber bei Weitem nicht die einzige Veranstaltung, die Wissenschaft in die Öffentlichkeit bringen will. Überall auf der Welt bringen Wissende abseits der Universitäten und Labore ihre Wissenschaft unter das Volk. Die Graswurzelbewegung der Wissenschaftskommunikation stößt inzwischen auf enorme Resonanz und hilft, Kontakt zwischen Elfenbeinturm und dem sogenannten echten Leben herzustellen.

Bei der "Nerd Nite" halten regelmäßig zwei bis vier Referenten in Bars oder Kneipen Vorträge zu ihren Lieblingsthemen. 2003 fand die erste Nerd Nite in Boston statt, mittlerweile gibt es Wissenschaft mit Baratmosphäre in mehr als 100 Städten auf der ganzen Welt. 2012 startete in England eine ähnliche Veranstaltung mit dem Namen "Pint of Science" - zu deutsch etwa "Wissenschaft im Bierglas". Sie bringt Wissenschaftler und interessierte Menschen in Bars und Cafés zusammen, um über Forschung zu diskutieren. Jährlich findet im Mai ein dreitägiges Pint-of-Science-Festival statt, mittlerweile gibt es die Veranstaltung in 21 Ländern weltweit.

Bei "Soapbox Science" schließlich berichten Frauen an öffentlichen Orten über ihre Forschung. So möchte man die Präsenz der Wissenschaftlerinnen stärken und ihre Themen ins Gespräche zu bringen. "Das Besondere an der Veranstaltung ist, dass sie draußen stattfindet", sagt Viktoria Korzhova vom Organisationsteam. "Das heißt, die Menschen sehen die Vorträge zufällig und werden neugierig, sie müssen nicht extra kommen."

Es treffen Menschen aufeinander, die informieren, lernen und sich verbessern wollen

Für "15x4", das Korzhova ebenfalls mitorganisiert, sind die Menschen extra gekommen. Die Russin lässt ihren Blick über die Menge schweifen. 154 Gäste sind da, der Raum ist voll, das Licht gedimmt. Die Zuschauer sind gespannt. Moderator Evgeny Labzin führt durch den Abend. Dieses Mal geht es um den Einfluss von Darmbakterien auf das Gehirn, wie Trump die Präsidentschaftswahl 2016 gewann und wie es nun weitergeht in den USA, um kognitive Verzerrungen und warum der Mensch oft Dinge falsch wahrnimmt. Zuletzt erzählt der 31-jährige Softwareingenieur André Kovac von seinem Hobby: die chinesische Sprache.

Viktoria Korzhova lebt seit gut viereinhalb Jahren in München. Die 29-jährige Doktorandin der Neurobiologie forscht über Alzheimer. An sich ist das schon ein Vollzeitjob, dennoch verbringt sie wöchentlich bis zu sechs Stunden mit der ehrenamtlichen Organisation deutschlandweiter Veranstaltungen, um Wissenschaft populärer zu machen. Wenn man sie fragt, warum sie das alles macht, fallen Begriffe wie "spirit" und "sharing". Sie möchte Gelerntes mit anderen Menschen teilen und Wissenschaft kommunizieren. Aus diesem Grund hat sie die englischsprachige Veranstaltungsreihe mit aufgebaut. "15x4" findet nun zum 16. Mal statt und ist im Laufe der Zeit immer größer geworden.

Der Informatikstudent Habtom Gidey ist an diesem Abend zum dritten Mal bei der Veranstaltung. "Es ist beeindruckend, wie gut das alles hier organisiert ist", sagt Gidey. "Hier treffen Leute aufeinander, die was lernen und sich verbessern wollen, hier ist eine junge und interessierte Community." Laut Gidey hat sich die Anzahl der Gäste seit seinem ersten Besuch mehr als verdoppelt.

Es braucht keine Medaillen für den besten Vortrag

Michael Siegel wundert es nicht, dass immer mehr Menschen zu solchen Veranstaltungen gehen. Er arbeitet bei Wissenschaft im Dialog, einer gemeinnützigen Organisation, die verschiedene Formate für die Kommunikation im wissenschaftlichen Bereich entwickelt. Laut Siegel gibt es immer mehr wissenschaftliche Veranstaltungen in der Öffentlichkeit, zudem steigt die Qualität der Events. "Wir haben insbesondere in den letzten Jahren gesehen, dass es zwar nicht trivial, aber sehr wohl möglich ist, Wissenschaft in verständlicher Sprache - und im besten Falle auch noch unterhaltsam - zu vermitteln", sagt Siegel. "Forschungsergebnisse aus erster Hand werden heute viel attraktiver und interessanter dargeboten als früher. Das spricht insbesondere junge Menschen an."

Einige dieser jungen Menschen sitzen nun im Veranstaltungssaal von JetBrains in München und lauschen André Kovacs Vortrag. Kovac beendet seinen Crashkurs in Mandarin mit einem interaktiven Part. Er spricht vier chinesische Silben aus. Diese enthalten die gleiche Lautschrift, unterscheiden sich aber in der Tonhöhe. Die Zuschauer sollen das nachsprechen. Es hört sich lustig an, Kovac lacht, die Leute lachen. Viktoria Korzhova freut das. Wenn die Leute lachen, amüsieren sie sich. Wenn sie sich amüsieren, verankern sie neues Wissen besser. So einfach ist das.

Applaus brandet auf. Der offizielle Teil ist vorbei, aber viele Zuschauer bleiben noch, sprechen die Vortragenden an, fragen und diskutieren über das Gehörte.

Im Gegensatz zum "Science Slam", bei dem Wissenschaftler in Kurzvorträgen gegeneinander antreten, herrscht bei Veranstaltungen wie "15x4", "Nerd Nite" und "Pint of Science" kein Wettbewerb. Es gibt keine Medaillen für den besten Vortrag und keine Urkunden für das spannendste Thema. Was zählt, ist die Begeisterung, mit der Forscher von ihren Ergebnissen berichten. Was zählt, sind die Diskussionen, die in Bars und auf der Straße entstehen. Und was am Ende zählt, ist die Wissenschaft, die sich öffnet und kommuniziert.

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Quelle:
SZ vom 19.04.2018
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