Biologie:Forschen mit Gefühl

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Schock, Hoffnungen, Fehltritte, Selbstzweifel: Biologen berichten in einer Fachzeitschrift subjektiv und emotional über ihre Arbeit. Das dürfte eines der ungewöhnlichsten Experimente ihrer Karriere sein.

Von Katrin Blawat

Der Jaguar wollte ihn töten, daran zweifelte Sergio Avila-Villegas nicht. Nur drei Meter stand er von dem tobenden Tier entfernt. Dessen Hinterbein hing in einer der Fallen fest, die der Doktorand mit seinen Kollegen aufgestellt hatten. Die Biologen wollten mehr über die Raubkatzen in der Sierra Madre zwischen Arizona und Mexiko erfahren. Dazu sollten einzelne Tiere gefangen, in Narkose untersucht und mit Telemetrie-Sendern ausgestattet werden, wie Avila-Villegas im Fachmagazin Plos Biology schreibt.

Doch geht es in Avila-Villegas Bericht über diese Aktion weniger um die Raubkatzen als um die Menschen, die sie erforschen. Ungewöhnlich für eine Fachzeitschrift, stehen in den "wissenschaftlichen Geschichten von der Front" ausnahmsweise die Forscher selbst im Mittelpunkt. So wolle man die "zutiefst menschlichen Seiten von Forschung" hervorheben, heißt es im Editorial zu diesem Publikations-Experiment. Fünf Wissenschaftler, alle aus dem Bereich des Natur- und Artenschutzes, erzählen darin sehr persönlich und emotional von ihren Hoffnungen und Enttäuschungen, Erfolgen, Fehltritten und Selbstzweifeln.

Der Doktorand wollte die Jaguare schützen. Stattdessen brachte er eine der Raubkatzen um

Letztere plagten Avila-Villegas noch nicht, als er und seine Kollegen den Jaguar untersuchen wollten. Im Gegenteil, die Biologen waren voll freudiger Erregung darüber, ein so kräftiges Tier erwischt zu haben. Je heftiger sich das Männchen zu befreien versuchte, umso stärker verletzte es sich. Jeder konnte sehen, wie schmerzhaft das war. Die ersten Narkosepfeile prallten von seinem angespannten Körper ab. Selbst als der Jaguar schon halb betäubt war, wehrte er sich noch. Er bekam noch mehr Narkosemittel. Erst dann ließ er sich messen, wiegen und seine Wunde versorgen. "Ich wusste, dass ich das Richtige tat für seine Spezies, auch wenn er kein besonderes Interesse hatte an meiner Dissertation", erinnert sich Sergio Avila-Villegas an die Augenblicke neben dem vor Angst und Schmerz rasenden Jaguar.

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Als die Forscher aufbrachen, schlief das Tier noch, bewegte sich aber etwas. "Er schien in Ordnung zu sein", schreibt Avila-Villegas. Am folgenden Tag kehrte das Team in bester Stimmung - immerhin hatten sie erfolgreich eine Raubkatze besendert - zurück, um nach dem Tier zu sehen. Der Jaguar lag auf der Seite unter jenem Baum, unter dem die Biologen ihn zurückgelassen hatten: tot. "Das war das Einzige, mit dem wir nie gerechnet hatten", schreibt Avila-Villegas. "Die größte Katze Amerikas, die Katze, von der ich immer geträumt hatte, sie zu erforschen und zu beschützen - tot. Ich habe mehr als zehn Jahre gebraucht, um das zu verarbeiten." Seine wissenschaftliche Hybris hatte eine Raubkatze das Leben gekostet. Inzwischen berät Avila-Villegas im Arizona-Sonora Desert Museum in Tucson Organisationen und Regierungsstellen, die sich für den Schutz der großen Raubkatzen einsetzen. Die Promotion, die durch den toten Jaguar ins Stocken gekommen war, hat er nie abgeschlossen.

Allen Artikeln gemeinsam ist, dass die Forscher sich selbst in die Geschichte einbringen, ihre Verzweiflung über verschwindende Amphibienarten oder ihren Lebensmut, den sie aus der Erforschung eines unscheinbaren Schmetterlings ziehen. Dass die Fachzeitschrift ausgerechnet jetzt mit solch menschelnden Wissenschaftler-Geschichten experimentiert, ist kein Zufall. Vor allem in den USA erlebt die Skepsis gegenüber der Forschung einen Aufschwung. Erkenntnisse, etwa der Klimaforschung, werden diskreditiert, mögen sie auch auf noch so belastbaren Daten beruhen. Dabei, so argumentiert Elizabeth Hadly von der Stanford University in ihrem Beitrag, habe es doch schon Beispiele dafür gegeben, dass "Wissenschaft den Planeten retten kann".

Als 15-Jährige stieß Hadly auf eine Geschichte im Magazin The New Yorker über den schädlichen Einfluss der Fluorchlorkohlenwasserstoffe (FCKW) auf das Ozonloch. Diesen Artikel sieht sie als "Mutmach-Geschichte, in der die Wissenschaft so funktioniert hat, wie sie es sollte: Forscher präsentierten ihre Ergebnisse der Öffentlichkeit und der Politik. Die erließ Evidenz-basierte Vorschriften, um uns und unsere Umwelt zu schützen, die Industrie entwickelte sicherere Alternativen." Wenn es jetzt heiße, Amerika solle wieder groß werden, dann bedeute das auch: Zurück zu jenen Zeiten, in denen auf die Lehren der Wissenschaft gehört und darauf aufbauend gehandelt wurde - "um unseren Planeten zu einem besseren Ort zu machen". Ein leidenschaftliches Plädoyer, wie man es nicht oft findet in einer wissenschaftlichen Publikation.

Dabei ist die übliche, staubtrockene Nüchternheit akademischer Studien hart erarbeitete Absicht. Schon Studenten lernen, sich an das formale Korsett und die fest gefügten Formulierungen wissenschaftlicher Publikationen zu halten. In den Fachaufsätzen soll es um nachvollziehbare und reproduzierbare Daten und Fakten gehen. Interpretationen und Schlussfolgerungen müssen sich Schritt für Schritt mit Daten untermauern lassen. Es zählt nicht der Einzelfall, sondern die auf einer möglichst großen Datenmenge beruhende Statistik. Wer die Daten erhoben und ausgewertet hat, darf keine Rolle spielen, ebenso wenig die Meinung und die Gefühle des Forschers. Vor allem darf ein Wissenschaftler nicht den "Klapperstorch-Fehler" begehen, also zwei Ereignisse nur deshalb als Ursache und Wirkung zu verstehen, weil sie gemeinsam auftreten. Diesem gedanklichen Kurzschluss zu widerstehen, fällt Menschen naturgemäß schwer, weil das Gehirn nach kausalen Zusammenhängen geradezu giert - verheißen sie doch Ordnung, Struktur und Überblick.

All diese Standards akademischer Studien seien absolut richtig und notwendig, betont Liza Gross von Plos Biology. Die neuartigen Beiträge sollen die traditionelle Form der akademischen Publikation lediglich auf eine Weise ergänzen, wie es nur Erzählungen vermögen: mit Protagonisten, die hoffen, kämpfen, leiden oder triumphieren.

Karen Lips hat all das durchgemacht, während sie im bergigen Regenwald Costa Ricas den "Traum eines Feldforschers" lebte, in einer einsamen Hütte ohne Strom und Wasser. Die Biologin von der University of Maryland hat dazu beigetragen, das anfangs höchst mysteriöse Amphibiensterben zu verstehen. Seit Jahrzehnten rafft ein tödlicher Pilz Molche, Frösche und Kröten dahin. Es ist ein gigantisches Sterben. Doch weil Amphibien außer in den Tropen eher unauffällig daherkommen, sind sich viele Menschen über deren Verschwinden kaum bewusst. Lips erzählt, wie sie sich anfangs wider besseres Wissen gegen die Erkenntnis gewehrt hat, dass auch ihre Forschungsobjekte der Seuche zum Opfer gefallen waren. Wenn sie nirgends einen Frosch quaken hörte, schob sie es "aufs Wetter, auf meine Methoden, auf das helle Licht meiner Stirnlampe - ich griff nach jedem Strohhalm und ich wusste es. Aber ich konnte es einfach nicht glauben." Passagen wie diese hinterlassen beim Lesen einen anderen Eindruck, als wenn man lediglich die Nulllinie in einer Statistik mit Amphibien-Sichtungen betrachtet.

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Einige Jahre später hatte Lips in Costa Rica einen kleinen Flecken Land ausgemacht, an dem ihre verloren geglaubte Welt der schillernden, farbenprächtigen Frösche noch existierte. Sie lud einheimische Kollegen ein, um ihnen zu zeigen, welche Amphibien-Vielfalt es einst überall in ihrem Land gegeben hatte. "Sie waren zu jung, um je selbst die Goldkröte gesehen zu haben. Sie kannten nur die Welt nach deren Verschwinden", schreibt Lips. Die Reaktion ihrer Besucher angesichts der in allen Farben leuchtenden Frösche werde sie nie vergessen: "Sie verhielten sich wie Kinder an Weihnachten. Staunend stolperten sie umher und vergaßen alles andere um sich herum. Es brach mir das Herz, ihnen sagen zu müssen, dass dies einst typisch für Costa Rica gewesen war." Ihr Beitrag erzählt das Amphibiensterben nicht nur als ökologisches Desaster, sondern auch als persönliche Leidensgeschichte. Irgendwann konnte die Biologin nicht mehr: "Das Nichts zu zählen ist erschöpfend. Irgendwann musste man sich auf etwas Produktiveres konzentrieren." Seither engagiert sich Lips in der Umweltpolitik und -diplomatie.

Ein unscheinbarer Schmetterling half ihm, sich von einer schweren Verletzung zu erholen

Erzählungen wie ihre machen auch jemandem, der nie im Regenwald gelebt hat, deutlich, was der Verlust von Arten bedeutet. Und wenn die Geschichte stark genug ist, braucht es dazu nicht einmal besonders hübsche oder auffällige Tiere. So berichtet Nick Haddad von der Kellogg Biological Station in Michigan über seine Faszination für den St. Francis Satyr. Dieser kleine, unscheinbare Schmetterling lebt ausschließlich in einem Teil des US-Bundesstaates North Carolina. Immer wieder gingen die Populationen zurück, erholten sich wieder etwas und standen doch stets am Rand des Aussterbens.

Dass es den St. Francis Satyr immer noch gibt, liegt sicher auch am Engagement Haddads. Und der wiederum verdankte den Insekten seinen wieder erstarkenden Lebensmut, nachdem er sich beim Basketball schwer am Kopf verletzt und über Monate einen Teil seines Gedächtnisses verloren hatte. Familie und Freunde halfen ihm bei der Rekonvaleszenz - und die kleinen braunen Insekten. "Der Schmetterling erinnerte mich an die Möglichkeiten des Wiedererstarkens", schreibt Haddad, "sowohl in meinem Leben als auch in der Natur."

© SZ vom 09.02.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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