Süddeutsche Zeitung

Wissenschaft als Entwicklungshilfe:Einstein aus Afrika

Lesezeit: 7 min

Südlich von Kapstadt studieren Begabte des ganzen Kontinents in einem besonderen Mathematik-Internat. Ein Besuch bei drei ungewöhnlichen Frauen.

Von Christopher Schrader

Chinenye Jane Ani sitzt in einer alten Hotellobby zwischen Bücherregalen, Tischen und einem Klavier auf einem Sofa, das bessere Zeiten gesehen hat. Es war ein weiter Weg für die junge Nigerianerin bis hierher, in das gelbe Haus in Muizenberg südlich von Kapstadt. Schon in der Schule konnte die Tochter eines Geschäftsmanns und einer Ladenbesitzerin gut mit Zahlen umgehen, im Mathematikunterricht in Jos City flog ihr alles zu. Aber Mathematik studieren? Als Frau? "In Afrika denkt man, dass Töchter in die Küche gehören", sagt sie, und lacht trocken. Sie hatte Glück, ihre Eltern achteten darauf, dass alle sechs Kinder eine gute Ausbildung erhielten, auch die fünf Töchter. Leicht war das nicht immer: "Dass Mädchen nach der Schule auch noch studierten, haben viele als sinnlos angesehen."

Wofür steht Aims nochmal? "African Institute for Minimal Sleep", sagen die Studenten

Als das dreistöckige Gebäude in Muizenberg noch ein Hotel mit 80 Zimmern war, flanierten die Gäste einen Block weiter an der Strandpromenade, bewunderten die weltberühmten bunt-lackierten Badekabinen und lernten in der flachen Brandung der False Bay das Surfen. Auch die heutigen Bewohner des Hauses üben, über ein Meer zu gleiten, aber es ist ein Meer aus Formeln, Integralen, Matrizen. Knapp 60 Studierende aus allen Teilen Afrikas vertiefen sich hier ein Jahr lang in die Mathematik und ihre Anwendung in Quantenmechanik, Statistik, Bioinformatik oder Finanzwesen. Sie alle haben in ihrer Heimat einen Bachelor in einem verwandten Fach erworben. Am Ende des Jahres machen sie einen Master-Abschluss, dann können sie an anderen Universitäten weiterstudieren. Sie lernen und leben zusammen mit ihren Dozenten in dem ehemaligen Hotel.

Über dem Eingang steht in Blockschrift "African Institute for Mathematical Sciences". Aims, wird das abgekürzt: Ziele also. Die Studierenden haben eine andere Auflösung für Aims: "African Institute for Minimal Sleep". Oft verlassen sie ihre Arbeitsplätze im großen Computerlabor im ersten Stock erst um zwei Uhr nachts, schleppen sich mit brennenden Augen eine oder zwei Etagen zu ihren Zimmern hinauf und sitzen doch am Morgen um acht im Erdgeschoss beim Frühstück und um neun wieder im Seminar. Sie stöhnen über die Belastung, und jubeln über die Chance.

Chinenye Ani ist vor allem ihrem vor zwei Jahren gestorbenen Vater für seine Unterstützung dankbar. Außerhalb ihres Elternhauses rechneten alle damit, dass sie am Studium sowieso scheitern würde. "Aber ich habe vor, gut zu sein und Erfolg zu haben", sagt sie, und wirkt plötzlich unsicher. Klang das zu selbstbewusst? Doch dann nickt sie, ihre zum Dutt verknoteten Rastazöpfe wippen. Nach dem Aims-Jahr will sie promovieren, in den USA oder Europa einen Postdoc machen, und später Professorin werden, irgendwo in Afrika. "Mein Herz ist hier", sagt die junge Frau.

Gegründet wurde Aims 2003 von Neil Turok, um die mathematische Ausbildung in Afrika auf Weltniveau zu heben. Der weiße Physiker aus Südafrika, dessen Eltern für ihren Kampf gegen die Apartheid im Gefängnis gesessen haben, wuchs im Exil auf. Er hat in England studiert, inzwischen ist er Direktor des Perimeter-Instituts in Kanada. Das etwas heruntergekommene Hotel in Muizenberg war damals für 100 000 Dollar zu haben und wurde zu einer Art Mathematik-Internat umgebaut. Neben drei Universitäten der Region halfen die Hochschulen Paris-Sud, Oxford und Cambridge mit Geld und Beratung. Die Überzeugung dahinter: Nur wer die Mathematik beherrscht, kann das moderne Zeitalter erreichen.

In seiner Dankesrede für einen Preis der gemeinnützigen Organisation Ted sagte Turok 2008: "Wenn Afrika gerettet werden kann, dann von den jungen Leuten, nicht von uns." Er wünsche sich, dass der nächste Einstein aus Afrika kommen werde, und am besten auch die nächsten Gates, Brins und Pages. Dazu zeigte Turok eine Weltkarte, bei der die Fläche der Länder nach ihrem Anteil an den wissenschaftlichen Publikationen verzerrt worden war. Während die USA, Großbritannien oder Deutschland wie aufgepumpt wirkten, baumelte Afrika wie eine knittrige Krawatte vom Stiernacken Europas. Der Anblick habe ihn schockiert, sagte der Physiker.

Mit seinem Preisgeld gründete Turok die Next-Einstein-Initiative, die weitere Aims-Hochschulen einrichten soll. Fünf Ableger gibt es bereits in Senegal, Ghana, Kamerun, Ruanda und Tansania. Auch dort können junge Afrikaner nun nach Turoks Rezept Mathematik studieren. Gut 1200 Studenten aus 43 Ländern haben das Programm bislang durchlaufen. Die große Mehrheit blieb danach entweder in Afrika oder kehrte später zurück. Viele Absolventen lehren Mathematik oder leiten den Statistik-Fachbereich an Universitäten ihrer Heimatländer. Sie entwickeln Software, verbessern Mikroskope und Solarzellen oder nutzen Mathematik, um Bergbau-Unfälle zu vermeiden. Etwa 3000 junge Leute bewerben sich pro Jahr auf knapp 300 Plätze. Wer einen davon ergattert, darf an der Aims-Einrichtung studieren und erhält zusätzlich freie Kost, Logis und ein kleines Taschengeld.

In den Instituten kursiert inzwischen die Parole, der nächste Einstein müsse nicht nur aus Afrika sein, sondern bitte auch noch eine Frau. Mathematikerinnen machen knapp ein Drittel der Studierenden aus. Von den Absolventen aus Nigeria, das die größte Gruppe der Ehemaligen stellt, sind 45 Prozent weiblich, aus dem muslimisch geprägten Sudan sogar 54 Prozent.

Die Mensa des Instituts geht auf einen kargen Innenhof hinaus, dort isst Nigist Getachew Beyene an einem Picknicktisch zu Mittag. Es gibt "Savoury Mince" - tomatenfreies Hackfleisch mit Spaghetti. Die Studentin stammt aus Äthiopien, aus Bahir Dar, eine Tagesreise nördlich der Hauptstadt Addis Abeba. Ihr Vater, ein Krankenpfleger, hielt Bildung hoch, aber er starb, als sie in der elften Klasse war. Es hätte die Familie fast ins Elend gestürzt. Die Mutter, eine Hausfrau, hat seither kein Geld verdient; Nigist Beyene und die ältere ihrer Schwestern mussten neben Schule und Universität mit Jobs - kellnern und putzen - für den Unterhalt der fünfköpfigen Familie schuften.

Während Beyene in Südafrika studiert, bekommt die Familie weiter das Gehalt von ihrem Job als Forschungsassistentin an der Heimat-Universität; sie ist für das Aims-Jahr beurlaubt. Trotzdem drängte ihre Mutter die Tochter, das Studium in Kapstadt sein zu lassen. "Sie wollte nicht, dass ich lerne, ich sollte an ihrer Seite bleiben", sagt die junge Äthiopierin. "Aber ich muss mich doch weiterentwickeln!" Über ihr Gesicht legt sich ein Schatten.

Nigist Beyenes große Leidenschaft sind die Sterne. Seit der neunten Klasse will sie Astronomin werden. "Ich habe halbe Nächte damit verbracht, die Sterne zu zählen. Es gibt bei uns eine Legende, dass man dann Geld findet", sagt sie. "Das hat natürlich nicht funktioniert." Später studierte sie Physik, aber ihre Möglichkeiten in Äthiopien waren begrenzt. Im Observatorium fiel das Teleskop aus, Ersatzteile gab es nicht, statt mit eigenen Beobachtungen arbeitete Beyene in ihrer Abschlussarbeit mit Daten aus dem Internet. Die Auswertung war eine mathematische Herausforderung. "Ich hatte keine guten Gefühle für Mathematik. Aber die Zeit bei Aims hat mich ihre Schönheit erkennen lassen."

Wenn Barry Green solche Sätze hört, strahlt er über seinen etwas schäbigen Schreibtisch, als hätte er einen Preis gewonnen. Mitte der 1990er-Jahre kehrte der weiße südafrikanische Mathematiker von der Universität Heidelberg in seine Heimat zurück. Kurz zuvor hatte die Apartheid-Regierung abgedankt, Nelson Mandela war zum Präsidenten gewählt worden; Green wollte seinen Beitrag zum Neustart leisten. Inzwischen ist er Institutsdirektor in Muizenberg. Seine Arbeit versteht er als Dienst am ganzen Kontinent. "Man braucht hochgebildete, mathematisch geschulte Menschen, um wirtschaftliche Dynamik zu entfesseln", sagt er in seinem schlichten Büro im ersten Stock des Aims-Gebäudes. Für den Ansatz, den Zugang zu wissenschaftlicher Exzellenz als Entwicklungshilfe darzustellen, bekommt Aims viel Unterstützung. Die deutsche Alexander-von-Humboldt-Stiftung hat fünf Lehrstühle an Aims-Zentren eingerichtet. Zudem geben Gastdozenten aus vielen Ländern Drei-Wochen-Intensiv-Kurse. Ohne diese Verstärkung würde der Lehrbetrieb nicht funktionieren, dazu ist die Zahl der angestellten Professoren zu gering.

Es ist eine seltsame, fast irreale Welt, in der die Studenten leben, am Rand der Region Kapstadt mit ihren Townships und Reichenvierteln. Unterschiede und Konflikte zwischen den Ländern und Religionen des kriegsgebeutelten Afrikas verblassen. Auch den Sexismus der Männer, den sie aus ihrer Heimat kennen, spürten sie bei ihren Mitstudenten nicht, sagen die jungen Mathematikerinnen. Am Wochenende bilden sich panafrikanische Fußballmannschaften, die Studierenden treffen sich am Strand. Manchmal ist Reem Omer Elmahdi aus dem Sudan dabei, die das Meer noch nie gesehen hatte, bevor sie herkam.

Sie schaut noch immer mit Staunen über die große Wasserfläche, die sich nach Süden bis zum Horizont und weiter bis zur Antarktis erstreckt. In ihrem Notizbuch sammelt Elmahdi Sprachen ihrer Mitstudenten. "Ich habe Sätze auf Französisch, Malagassi und Afrikaans gelernt, und ein Lied auf Swahili", erzählt sie stolz. Vom Besucher aus Deutschland lässt sie sich Ausdrücke wie "Ich heiße Reem" oder "Auf Wiedersehen" vorsprechen und notiert sie phonetisch mit arabischen Schriftzeichen.

Die junge Muslima stammt aus Khartum, der Hauptstadt des Sudan, und dorthin will sie auch irgendwann zurück, um ein sehr konkretes Projekt umzusetzen. "Wenn ich von unserem Haus zur Uni mit dem Bus fahre, dauert es eigentlich nur 20 Minuten", sagt sie. "Aber wenn die Brücke verstopft ist, können daraus zwei Stunden werden. Das ist überhaupt nicht vorherzusagen." Mitten in der Metropole mündet der weiße in den blauen Nil, drei große Brücken verbinden die Stadtteile. Die Mathematikerin träumt von einem modernen Verkehrsleitsystem, das den privaten Verkehr mit Hilfe von Satelliten erfasst und bei Bedarf mit Signalen auf weniger befahrene Straßen lenkt, damit öffentliche Busse besser durchkommen.

Es ist völlig klar, dass es hier noch Genies geben muss. Sie haben aber oft keine Chance

Wenn es dabei nur um Mathematik ginge, wäre das vermutlich sogar machbar. Die Politik jedoch macht das Ganze kompliziert. Als Elmahdi an ihrer Universität begann, so ein System zu entwerfen, hielten sie Behördenvertreter schon bei der Übergabe von Verkehrsdaten hin. Und die nötige Technik ist für den Sudan, gegen den Sanktionen wegen seines Verhaltens im Darfur-Konflikt und seiner Rolle im internationalen Terrorismus verhängt sind, nur schwer zu beschaffen. Aber das mathematische Rüstzeug für ihr Projekt, das möchte Reem Elmahdi in Südafrika erwerben.

In einem Café am Strand neben den Surfschulen sitzt Yabebal Fantaye und schaut aufs Meer. Das Kap der Guten Hoffnung liegt in der Ferne im Dunst, auf den Strand rollen stetig lange Wellen mit endlosen Schaumkronen zu. Für angehende Surfer sind sie perfekt. Man muss nur rechtzeitig kräftig losrudern, aufspringen, und schon rast man erhobenen Hauptes auf der Welle nach vorn. Bei solchen Bedingungen kann jeder surfen lernen, der etwas Talent und einen starken Willen mitbringt.

Aber nur für einen sehr kleinen Teil der Kinder und Jugendlichen in Afrika besteht das Leben aus Chancen, die man nur ergreifen muss. "Afrika ist in der wissenschaftlichen Gemeinde grotesk unterrepräsentiert", sagt der junge äthiopische Astrophysiker Fantaye. Seine Junior-Professur am Aims-Institut wird von der deutschen Robert-Bosch-Stiftung finanziert. "Es ist völlig klar, dass es hier noch Genies geben muss. Sie haben keine Chance, sich zu entwickeln." Mit dem "nächsten Einstein" kann er trotzdem wenig anfangen. Vielleicht wird Afrikas Einstein ja etwas leisten, was gar nicht ins Gefüge der Wissenschaft passt? "Die meisten Menschen hier in Afrika blicken auf die Welt aus einer Perspektive, die in der westlich geprägten Wissenschaft gar nicht vorkommt", sagt Fantaye. "Darum sehen sie vielleicht etwas Entscheidendes, das sonst übersehen wird."

Die jungen Frauen, die hier studieren, legen das Motto ihrer Hochschule auf ihre eigene Art aus. Reem Elmahdi träumt davon, die arabische Tradition der Mathematik neu zu beleben. Nigist Beyene will sie selbst bleiben, wäre aber gerne einmal so einflussreich wie Einstein. Und Chinenye Ani muss laut lachen, wenn sie über das Einstein-Werden nachdenkt. "Ich arbeite daran", sagt sie dann.

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Quelle:
SZ vom 18.04.2017
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