Wirtschaftskrisen:Markt und Mortalität

Angst, Depression, Sucht: Mit der Arbeitslosigkeit steigt auch die Rate der Selbstmorde und Morde, wie eine Auswertung europäischer Daten ergab.

Christian Weber

Theoretisch ist beides vorstellbar. Zum einen führen Wirtschaftskrise und Arbeitslosigkeit zu Angst, Depression und Sucht - davor warnen Arbeitsmediziner seit langem. Andererseits bringe in Ländern mit funktionierendem Sozialsystem so eine Rezession doch auch eine gewisse Entspannung, argumentieren manche Experten: weniger Stress bei der Arbeit, Zeit zum Joggen statt S-Bahn-Stress, gemütlich Kochen statt Fast Food und Alkohol.

Eine von der Fachzeitschrift The Lancet (online) publizierte, umfassende Studie will diesem Streit nun ein Ende machen: "Steigerungen der Arbeitslosigkeit wie in der jetzigen Krise erhöhen die Suizid- und Mordraten", bilanziert der Gesundheitssoziologe David Stuckler von der Universität Oxford.

Gemeinsam mit seinem Forscherteam analysierte Stuckler Daten aus allen Wirtschaftskrisen, die zwischen 1970 und 2007 in 26 Ländern der Europäischen Union aufgetreten waren. Dabei ergab sich der statistisch handfeste Beweis, dass bei einem Anstieg der Arbeitslosigkeit um ein Prozent bei Menschen unter 65 Jahren die Suizid- und Mordraten um jeweils 0,8 Prozent kletterten. Bei einem Anstieg um drei Prozent wuchs die Zahl der Suizidopfer um 4,5 Prozent, die Zahl der Alkoholtoten gar um 28 Prozent. Besonders deutlich waren diese Effekte bei formal schlecht ausgebildeten Arbeitslosen.

Über die aktuelle Wirtschaftskrise können die Forscher mangels Daten noch keine konkreten Angaben machen. Aufgrund historischer Erfahrungen befürchten sie jedoch langandauernde Folgen für die Psyche vieler Menschen. Einige negative Gesundheitseffekte der großen Weltwirtschaftskrise der späten 1920er und frühen 1930er Jahre hätten sich mit etwa fünf Jahren Verzögerung gezeigt. "Selbst wenn sich der Markt erholt, machen sich die Menschen weiter Sorgen", sagt Stuckler. Um die psychischen Folgen der Krise zu dämpfen, empfiehlt er deshalb eine aktive Arbeitsmarktpolitik. "Schon 190 Dollar Sozialausgaben pro Kopf und Jahr senken die Suizidraten."

"Diese Studie bestätigt allgemeine Erwartungen", kommentiert die Psychologin Birgit Kleim von der Universität Basel, die sich vor allem mit Resilienz beschäftigt, also der Frage, wie Menschen unter Stress bestehen. Auch sie beobachtet eine Zunahme der Angststörungen und Depressionen, warnt allerdings davor, Arbeitslosigkeit als einen völlig unabhängigen Risikofaktor für Suizide zu sehen. "Es könnte ja auch sein, dass depressive und suizidgefährdete Menschen eher arbeitslos werden, weil sie eben weniger leistungsfähig sind."

Entscheidend sei, dass man die richtige Bewältigungsstrategie wähle. "Die psychologische Forschung zeigt, dass es ungünstig ist, wenn Menschen abstrakt über ihr Schicksal grübeln", erläutert Kleim. "Besser ist es, wenn man aktiv bleibt, optimistisch und konkret die Probleme angeht und dabei vor allem über ein gutes, unterstützendes soziales Netzwerk verfügt."

Wenn man also eine erzwungene berufliche Pause dazu nutzt, solche soziale Kompetenzen zu stärken, könne man auch gestärkt aus der Krise hervorgehen. Tatsächlich nennt auch die Lancet-Studie eine positive Verhaltensänderung: In der Krise scheinen die Menschen weniger oder vorsichtiger Auto zu fahren. Beim besagten Anstieg der Arbeitslosigkeit um ein Prozent sank die Zahl der Verkehrsunfälle um durchschnittlich 1,4 Prozent.

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