Archäologie:Die erste Reisegruppe

Wikinger in Amerika

Ein rekonstruiertes Gebäude aus der Wikingerzeit in L'Anse aux Meadows, Neufundland.

(Foto: Glenn Nagel Photography/dpa)

Forscher haben die Ankunft der Wikinger an der Küste Nordamerikas mit einer neuen Technik exakt datiert. Es war vor genau 1000 Jahren, dass dort Drachenboote aus Europa anlandeten.

Von Hubert Filser

Die Entdeckung Amerikas hat ein neues Datum: das Jahr 1021. Nicht Christoph Kolumbus überquerte als Erster den Atlantik, sondern die Wikinger. Mit ihren schnellen Schiffen bezwangen sie die stürmischen Nordmeere, segelten von Island über Grönland bis an die Küsten Neufundlands. Eine im Fachmagazin Nature veröffentlichte Studie nennt nun die Jahreszahl für die Besiedlung. Die Wikinger könnten Amerika bereits im Jahr 1021 nach Christus erreicht haben, also vor genau 1000 Jahren. "Es ist ein wichtiger Moment in der Geschichte unserer Art, als wir zum ersten Mal den Atlantik von Europa nach Amerika überquert haben", sagt Hauptautor Michael Dee von der Universität Groningen.

Datiert haben die Forscher vier Holzstücke aus einer Siedlung am Black Duck Brook, einem Bach direkt an der Küste Neufundlands im heutigen Kanada. L'Anse aux Meadows gilt schon länger als Kandidat für einen der frühesten Aufenthaltsorte der Wikinger in der Neuen Welt. Dort gibt es Überreste von Wikingerhäusern, gewaltigen Langbauten mit bis zu 160 Quadratmeter Grundfläche, einer Schmiede und einer Werkstatt. Rund um drei größere Komplexe fanden Archäologen zahlreiche Artefakte wie Schiffsnägel, Bronzestifte oder Knochennadeln, die den Nordleuten zugeschrieben werden. Genau datiert war die Stätte bislang nicht.

Kosmische Ereignisse haben Spuren im Holz hinterlassen

Es ist nicht der einzige Hinweis auf die frühe Anwesenheit der Wikinger. So sprachen auch die altnordischen Sagas, die sogenannten Vínland sagas, nicht nur davon, dass aus Island stammende Nordleute zunächst Grönland kolonisierten. Sie erzählten auch davon, wie sie von Grönland aus Richtung Westen fuhren und wie vereinzelte Erkundungsfahrten die Seeleute bis nach Neufundland brachten. Die Texte lassen sich zeitlich erstaunlich gut fassen. "Diese vereinzelten Fahrten müssen nach Aussage der Sagas in den ersten Jahren nach 1000 nach Christus stattgefunden haben", sagt Matthias Toplak, neuer Leiter des Wikingermuseums Haithabu in Schleswig-Holstein. Doch solange keine archäologisch gesicherten Datierungen für die nordischen Aktivitäten in L'Anse aux Meadows vorlagen, wussten die Archäologen nicht, wie verlässlich die Angaben aus den literarischen Texten wirklich waren. Eine konkrete Jahreszahl gab es nicht.

Die Forscher datierten nun vier hölzerne Fundstücke aus der Wikingersiedlung in Neufundland. Es sind eher keine spektakulären Gegenstände, ein Baumstumpf ist darunter, eine Art Planke, ein Teil sieht aus wie das Stück eines Bogens. Das Team musste zunächst klären, dass die Artefakte auch wirklich von den Wikingern stammten und nicht von indigenen Völkern Nordamerikas. Der Fundkontext war hier ein erstes Indiz: die hölzernen Überreste inmitten der Siedlung am Bach. Zudem sind alle Holzstücke eindeutig mit Metallklingen bearbeitet worden. Die indigene Bevölkerung kam erst Jahrhunderte später mit Metallwerkzeugen in Kontakt.

Wikinger in Amerika

Die Baumringe in dem Holzstück gaben Aufschluss über das genaue Jahr der Ankunft der Wikinger in Nordamerika.

(Foto: Petra Doeve/dpa)

Der Clou der Nature-Arbeit liegt in der Datierung selbst. Dee und sein Team konnten erstmals das Alter eines organischen Materials wie Holz auf ein Jahr genau bestimmen. Bisherige Radiokarbonmethoden, bei denen man die Konzentration des Kohlenstoffisotops C14 misst und mit geeichten Vergleichsdaten abgleicht, konnten nur einen Zeitraum angeben, oft mit Jahren oder Jahrzehnten Unsicherheit. Wer Jubiläen feiern will, konnte hier nicht zufrieden sein. Seit Jahren arbeitet Michael Dee mit seinem Team in Groningen an einem neuen Ansatz. "Echoes" nennt er seine Methode. Sie nutzt erstmals seltene kosmische Ereignisse, die einen Einfluss auf die Kohlenstoffkonzentration der Erde hatten. Wenn energiereiche Partikel aus dem All auf die Erdatmosphäre treffen, lösen sie einen Anstieg der CO₂-Konzentration aus.

Energiereiche Partikel aus dem All setzten im Jahr 992 quasi einen Datumsstempel

So ein Ereignis fand offenbar im Jahr 992 nach Christus statt und schlug sich in den Wachstumsringen aller Pflanzen im Jahr darauf sichtbar nieder. "Wir konnten das in allen Archiven mit alten Baumringen weltweit nachweisen", sagt Dee. Solche seltenen Extremereignisse gleichen universellen Zeitmarkierungen, als hätte jemand ein Jahresdatum in ein Stück Holz gestempelt.

Tatsächlich ist dieses Verfahren ein wenig mysteriös, zumindest was die kosmischen Ereignisse selbst betrifft. Denn Astronomen sind sich nicht sicher, ob dafür extreme Sonnenstürme mit ihren hochenergetischen Teilchenschauern ausreichen. "Bislang kennen wir in der Menschheitsgeschichte nur fünf solcher Strahlungsereignisse", sagt Dee. Zwei in historischer Zeit, neben 992 n. Chr. auch im Jahr 774 n. Chr., dazu drei weitere im Jahr 660 v. Chr. und vor rund 9000 sowie 11 000 Jahren. Letztere sind noch nicht so genau zu fassen. Die Spuren tauchen synchron in den dendrochronologischen Aufzeichnungen auf der ganzen Welt auf, also in den Proben von Baumringen. Die höhere Radiokohlenstoffkonzentration in der Atmosphäre bewirkt, dass die Ringe erkennbar breiter werden. "Wir konnten diese Spitze in drei Holzstücken von L'Anse aux Meadows nachweisen, sodass wir wussten, dass wir die Baumringe aus den Jahren 992 und 993 n. Chr. hatten", sagt Dee.

Der Rest war Baumringe-Zählen - und ein bisschen Glück. 29 Ringe zählten die Forscher in allen drei Holzstücken, sie stammten von drei verschiedenen Bäumen, Balsamtanne und Wacholder oder Thuje, und der letzte Wachstumsring war gleichzeitig der Übergang zur Rinde. Damit war klar, dass niemand durch Bearbeitung Ringe, also Jahre, abgetragen hatte. "So hatten wir das exakte Fälldatum", sagt Dee. 1021 nach Christus, 471 Jahre vor Kolumbus waren Wikinger in Amerika.

Noch sind sich Archäologen nicht einig, ob die Wikinger vielleicht sogar noch früher Amerika entdeckt haben könnten. Matthias Toplak verweist hier nochmal auf die beiden zentralen nordischen Sagas, die Grœnlendinga saga und die Eiríks saga rauða, die die Entdeckung Vínlands leicht unterschiedlich schildern. Die Grœnlendinga saga spreche von einer Niederlassung mit Namen Leifsbúðir, übersetzt die "Häuser von Leif", errichtet durch den Entdecker Nordamerikas, Leifr Eiríksson, Sohn von Erik dem Roten, so Toplak. Die Eiríks saga rauða erwähne zwei Niederlassungen; die Ansiedlung von Straumfjörðr, die vermutlich mit Leifsbúðir identisch sei und bei L'Anse aux Meadows am Black Duck Brook lag, und ein Sommerlager namens Hóp. Das könnten die Wikinger weiter südlich an der Küste errichtet haben, vielleicht sogar auf heutigem US-Gebiet. Archäologisch ist bislang nur die Niederlassung bei L'Anse aux Meadows am Black Duck Brook bekannt. Die Archäologen halten weitere Niederlassungen der Wikinger für möglich, vermutlich waren es aber temporäre Sommerlager.

Matthias Toplak ist zwar von der genauen Datierung begeistert, hält aber weitere archäologische Untersuchungen für notwendig, die sogar frühere Datierungen und damit auch einen längeren Besiedlungszeitraum ergeben könnten. In L'Anse aux Meadows lassen sich nämlich drei Gebäudegruppen archäologisch nachweisen, die vom Aufbau ziemlich genau den Haustypen entsprechen, die von Grönland und Island bekannt sind und die man daher recht sicher den Wikingern zuordnen kann. "Es gibt dazu Theorien, dass die Aufteilung in drei Gruppen mit jeweils einem größeren Gebäude auch drei Schiffsmannschaften oder drei Expeditionen widerspiegelt", sagt Toplak. Ob die datierten Gegenstände vom Beginn oder vom Ende der nordischen Aktivitäten stammen, ist also noch nicht geklärt. Für viele Archäologen und auch für das Team um Michael Dee ist aber klar, dass es sich bei der Niederlassung am Black Duck Brook um das Lager der ersten Vínland-Fahrer aus den Sagas handelte.

Von Dauer waren die Besiedlungsversuche der Wikinger aber wohl nicht, es gibt keine Hinweise auf genetischen Einfluss in Nordamerika. Es ist aber nicht auszuschließen, dass auch nach 1021 noch vereinzelte Schiffsmannschaften aus Grönland die Siedlung bei L'Anse aux Meadows als Winterlager nutzten und sich dort das Bauholz für ihre Schiffe holten.

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