Süddeutsche Zeitung

Wie Babys ihre Umwelt wahrnehmen:In der Welt der Klänge

Lesezeit: 2 min

Babys und Kleinkinder orientieren sich fast ausschließlich an Geräuschen. Laute faszinieren Babys einfach mehr als optische Eindrücke.

Von Katharina Kramer

Als sich der Schriftsteller Walter Benjamin an seine Berliner Kindheit erinnerte, fielen ihm vor allem Geräusche ein: "Ich höre das kurze Rasseln des Anthrazits, der aus dem Blechbehälter in einen Eisenofen niederfällt, und das Klirren der Lampenglocke auf dem Messingstreifen, wenn auf der Straße ein Gefährt vorbeikommt. Noch andere Geräusche wie das Scheppern des Schlüsselkorbs, die beiden Klingeln an der Vorder- und Hintertreppe. Endlich ist auch ein kleiner Kindervers dabei."

Diese Schilderung passt zu neuester Forschung: Kognitionswissenschaftler haben herausgefunden, dass wir in unserer frühesten Lebensphase vor allem in einer Klangwelt leben.

Erst später gewinnen visuelle Eindrücke die Oberhand. Zu diesem Ergebnis kamen Vladimir Sloutsky von der Ohio State University und sein Team nach zahlreichen Wahrnehmungs-Experimenten mit Babys, Vier- und Fünfjährigen sowie Erwachsenen.

"Babys nehmen Klänge deutlich stärker wahr als Bilder sagt Sloutsky. Schon Fünfjährige reagieren dagegen wie Erwachsene - mehr auf Bilder als auf Geräusche.

Um die Entwicklung der Wahrnehmung zu erkunden, machten die Forscher ein Dutzend Tests mit 350 Probanden aus verschiedenen Altersgruppen. Sie spielten acht Monate alten Babys immer wieder die gleiche Bild-Ton-Kombination vor. Wenn ihre Aufmerksamkeit nachließ, wussten die Experten, dass sie die Kombination jetzt gut kannten.

Danach spielten die Forscher ein bekanntes Bild mit einem unbekannten Klang ein oder umgekehrt. Ein neues Bild in Kombination mit einem vertrauten Geräusch ließ die Kleinen kalt. Begleitete dagegen ein neuer Klang ein bekanntes Bild, war ihre Neugier geweckt.

In einem anderen Experiment verglichen die Spezialisten die Wahrnehmung von Vierjährigen und Erwachsenen. Sie führten ihnen zunächst zwei Bild-Ton-Kombinationen vor.

Nach Einspielung der ersten Kombination erschien rechts auf dem Bildschirm ein Tier. Nach Einspielung der zweiten Kombination tauchte das Tier links auf. Nun kam der Test: Die Experten zeigten das erste Bild mit dem zweiten Ton und umgekehrt. Die Probanden mussten spontan sagen, ob das Tier links oder rechts erscheinen wird.

Ergebnis: Die Kinder gingen meist nach dem Ton, die Erwachsenen nach dem Bild. Die Wissenschaftler wollten auch herausbekommen, ob kleine Kinder ihre Wahrnehmung bewusst steuern können. Daher mahnten sie Vierjährige bei einem Versuch: "Vergiss nicht das Bild!" Doch auch bei diesem Test gingen die jungen Probanden nur nach dem Geräusch und erinnerten sich nicht an das dazugehörige Bild. Die Klangvorliebe ist also ein Automatismus.

Die akustische Vorliebe könnte daher kommen, dass schon Ungeborene im Mutterleib Töne hören. Das Sehen dagegen beginnt erst mit der Geburt, und noch bis zum sechsten Lebensmonat nehmen wir optische Reize nur verschwommen wahr.

"Eventuell muss das Auge diesen Rückstand erst aufholen", sagt Sloutsky-Mitarbeiter Christopher Robinson. In jedem Fall hilft die Konzentration auf Klänge beim Lernen der Muttersprache. "Wörter sind flüchtig", betont Sloutsky, "wenn man nicht hinhört, verpasst man sie." Visuelle Eindrücke dagegen bleiben oft eine Weile bestehen.

Daher mache es Sinn, dass kleine Kinder ihr Interesse auf Klänge und damit auch auf die große Herausforderung des Spracherwerbs richten - besonders weil die Aufmerksamkeit in den ersten Jahren noch recht begrenzt ist und Sinneseindrücke vom Gehirn langsam verarbeitet werden.

Aus der Studie ergeben sich Tipps für den Umgang mit kleinen Kindern. Um ihre Aufmerksamkeit zu erregen, sollte man auf akustische Reize setzen, rät Sloutsky. "Und wenn kleine Kinder sich auf etwas Visuelles konzentrieren sollen, muss man darauf achten, dass es in der Umgebung leise ist."

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Quelle:
SZ vom 5.1.2004
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