Weltraumschrott:Kehraus im Weltraum

Weltraummüll

Die Simulation zeigt, wie die Erde mittlerweile von Hunderttausenden von Schrottteilen umflogen wird. Illustration: Institut für Raumfahrtsysteme/TU Braunschweig

Von der Satelliten-Leiche bis zum Metallsplitter, die Erde schwebt in einer Wolke aus Müll. Jetzt soll im All endlich aufgeräumt werden.

Von Alexander Stirn

Gegen die Bedrohung aus dem Weltall wird Deutschland am Niederrhein verteidigt, in zwei Containerbauten, zwischen Kartoffeläckern und Getreidefeldern. "Milchstraße" haben Soldaten der Paulsberg-Kaserne an die Gasse geschrieben, die zwischen den Blöcken hindurchführt. In ihrer Verlängerung, am Fuß der Anhöhe mit dem Luftwaffenstützpunkt, tuckert ein Bauer auf seinem Trecker vorbei. Neben einer der Containertüren klebt ein Schild: Weltraumlagezentrum.

Die Bedrohung aus dem All - sie besteht weder aus kleinen grünen Männchen, noch aus Bösewichten mit Laserkanonen. Sie besteht aus Schrott. Mehr als 20 000 Objekte mit einem Durchmesser von mindestens zehn Zentimetern kreisen unkontrolliert um den Planeten: defekte Satelliten, ausgebrannte Raketenstufen, Trümmerteile, verursacht durch Kollisionen oder gezielte Abschüsse. Hinzu kommen etwa 750 000 Splitter mit einer Größe von einem Zentimeter, die von der Erde aus nicht zu erkennen sind. Der Schrott ist eine immense Gefahr für die knapp 1500 aktiven Satelliten, die derzeit um die Erde rasen. Zuletzt gab es im Jahr 2009 einen großen Crash, als ein russischer Kosmos-Satellit mit einem US-Iridium-Satelliten kollidierte; 100 00 Bruchstücke sollen damals entstanden sein.

"Sechzig Jahre Raumfahrt haben dazu geführt, dass um uns herum sehr, sehr viel Verkehr herrscht", sagt Oberst Thomas Spangenberg, militärischer Leiter des Weltraumlagezentrums in Uedem, 60 Kilometer nordwestlich von Düsseldorf. Viel Verkehr bedeutet auch eine hohe Unfallgefahr - insbesondere, wenn unzählige Geisterfahrer unterwegs sind und es weder eine verbindliche Straßenverkehrsordnung noch einen verlässlichen Pannendienst gibt: Alle Versuche, die Müllmenge einzudämmen oder in geordnete Bahnen zu lenken, sind bislang gescheitert. Überlegungen, die Wracks abzuschleppen und zu entsorgen, scheitern bislang an der Technik, an den Kosten und am politischen Willen.

Das derzeit Schlimmste trägt den Namen Unknown, "unbekannt"

"Bei einem Verkehrsunfall auf der Autobahn kommt die Polizei und sperrt die Straße", sagt Gerald Braun, ziviler Leiter des Lagezentrums, das von der Luftwaffe und dem Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR) betrieben wird. "So etwas geht dort oben nicht. Das ist ein aktives Hochgeschwindigkeitssystem, da lässt sich nichts stoppen." In Uedem bleibt Braun und Spangenberg nur eines übrig: Sie müssen das Schlimmste verhindern.

Das derzeit Schlimmste trägt den Namen Unknown, "unbekannt". In Raum 109, dem operativen Herz des Weltraumlagezentrums, flimmert der Name - rot eingefärbt - auf einer Liste über die Monitorwand. Etwa eine Woche vor einem möglichen Crash erhält das Lagezentrum - WRLageZ im Bundeswehrjargon - einen Hinweis sowie die Bahndaten der Kontrahenten. Die Annäherungen werden in Simulationen durchgerechnet, bewertet und Tag für Tag verfeinert. Kollisionswahrscheinlichkeiten werden ermittelt und minimale Abstände.

Die meisten Einträge auf der Monitorwand, die fast die gesamte Länge des Containers einnimmt, sind harmlos: Egal ob der Spionagesatellit SAR-Lupe 3 oder der zivile Späher TerraSar-X - sie alle werden vom fliegenden Schrott wohl um mehrere Kilometer verfehlt. Nur Unknown macht Sorgen. In fünf Tagen wird das Objekt in einer Entfernung von nur 201 Metern an Rapideye 5 vorbeirauschen, einem kleinen deutschen Erdbeobachtungssatelliten. Die prognostizierte Geschwindigkeit beim Zusammentreffen soll 51 000 Kilometer pro Stunde betragen. Selbst bei einem Streifschuss bliebe nicht viel übrig - außer Unmengen von neuem Schrott.

Noch ist die Ungewissheit groß. "In fünf Tagen kann sich viel ändern - die beiden Objekte können sich noch mehr nähern, die Situation kann sich aber auch entspannen", sagt Spangenberg. "Wir werden das ganz sicher auf dem Schirm behalten." Der Luft- und Raumfahrtingenieur holt eine Grafik auf die Monitorwand, sie zeigt die berechnete Position der beiden Kontrahenten zum Zeitpunkt der größten Annäherung. Rapideye 5 ist als schmale Ellipse dargestellt; seine Bahn kennen die Experten genau. Unknown rauscht hingegen als fette blaue Zigarre durchs Bild. Es könnte sich überall darin aufhalten - zu vage sind derzeit die Prognosen.

Die Vorhersage von Kollisionen ist ein Stochern im Nebel. Und sie ist Vertrauenssache: "Derzeit hängen wir von den Amerikanern ab und deren weltweitem Netzwerk - wie die gesamte westliche Hemisphäre", sagt Spangenberg. Dreißig Radarstationen und optische Teleskope helfen den USA, die Bahnen von vermutlich 30 000 Objekten im Erdorbit zu verfolgen. Gut 18 000 Satelliten und Trümmerteile landen in einem Katalog, auf den jeder zugreifen kann. Der Rest ist geheim. Einige der vertraulichen Messungen werden jedoch mit den transatlantischen Partnern geteilt. Unknown dürfte darunter fallen, wobei unklar ist, ob es sich um einen Spionagesatelliten handelt, einen Splitter oder eine Raketenstufe.

"Wir wissen nicht, was da auf uns zukommt", sagt Gerald Braun. "Wir haben weder Zugriff auf die Größe, noch auf die Katalogdaten dieses Objekts." Das soll sich ändern. Die Deutschen wollen künftig selbst den Schrott im Weltraum überwachen. DLR-Manager Braun holt das Smartphone hervor und zeigt einige Bilder: wieder Container, diesmal auf einem Parkplatz des Fraunhofer-Instituts für Hochfrequenzphysik und Radartechnik in Wachtberg - vollgestopft mit Elektronik, Stromversorgung, Kühlanlagen. Aussparungen in den Dächern sind provisorisch abgedeckt. Hier sollen Radarantennen montiert werden.

Gestra heißt das Projekt. Mit dem experimentellen Überwachungsradar wollen DLR und Luftwaffe die Bahnen von Satelliten und Trümmerteilen in 500 bis 1200 Kilometern Höhe erfassen. Dabei setzen sie vorerst auf eine mobile, modulare Lösung: Einer der beiden Container schickt Radarstrahlen ins All, der andere - gut hundert Meter entfernt - empfängt die reflektierten Signale und wertet sie aus.

Besser als die USA? Kein Kommentar

Im kommenden Jahr soll Gestra einsatzbereit sein. Damit ist es allerdings nicht getan: Das Weltraumlagezentrum muss auch lernen, die neuen Daten zu verarbeiten. Schon heute, mit den Informationen aus den USA, kommen in Uedem jedes Jahr Zehntausende Hinweise an, dass es zwischen zwei Objekten eng werden könnte. Sie werden gefiltert, begutachtet und landen bei hinreichender Gefahr auf der Monitorwand in Raum 109. Ein bis zweimal im Monat entwickeln sich kritische Situationen. Droht tatsächlich ein Zusammenstoß, wird der Betreiber des Satelliten informiert - verbunden mit der dringenden Bitte, ein Ausweichmanöver einzuleiten.

"In Zukunft müssen solche Daten vollautomatisiert verarbeitet werden, sonst ist all das nicht mehr zu schaffen", sagt Braun. Über die Auflösung von Gestra schweigt sich der 56-Jährige allerdings aus. Verschlusssache. Besser als die USA? Kein Kommentar. Objekte mit zehn Zentimetern Durchmesser können die Amerikaner nach eigenen Angaben erfassen. Doch selbst, wenn Gestra fünf Zentimeter schaffen sollte, wäre das kein Grund, sich zurückzulehnen: Auch ein Teilchen mit einer Größe von drei oder vier Zentimetern kann verheerende Schäden anrichten. "Im Gegensatz zum Luftraum mit seinem vollständigen Lagebild fehlt uns so etwas im Weltall - und wir werden es auch nie haben", sagt Gerald Braun. "Letztlich sind wir stets im Blindflug unterwegs."

Umso wichtiger wäre es, Müll im Weltall zu vermeiden. Doch daran hapert es. Die wenigsten Länder verfügen, wie zum Beispiel Frankreich, über gesetzliche Regelungen. Auch Deutschland hinkt hinterher. "In dieser Legislaturperiode wird das nichts mehr", sagt Wirtschaftsministerin Brigitte Zypries. Stattdessen gibt es unverbindliche Empfehlungen: Satelliten in einem niedrigen Erdorbit sollen demnach zum Ende ihrer Lebenszeit auf eine Höhe von etwa 520 Kilometern abgesenkt werden. Dort sind die Ausläufer der Erdatmosphäre noch so dicht, dass die Raumfahrzeuge langsam abgebremst werden und innerhalb von 25 Jahren verglühen. Zudem sollen Drucktanks entlüftet, Batterien entladen, Treibstoffvorräte verbraucht werden - alles, was explodieren könnte.

"In den vergangenen Jahren gab es viele Theorien zur Müllentsorgung, aber kaum echte Missionen"

Nicht einmal zwei Drittel aller Raumfahrtmissionen folgen derzeit diesen Empfehlungen, sagt Holger Krag, Leiter des Büros für Weltraumtrümmer bei der Europäischen Raumfahrtagentur Esa in Darmstadt. Müllvermeidung kostet Geld, die wenigsten Satellitenbetreiber wollen dafür bezahlen. "Für die Umsetzung solcher Richtlinien bräuchten wir die Politik", sagt Krag. "Nur: Der zuständige Raumfahrtausschuss der Vereinten Nationen hat seit Jahrzehnten kein Gesetz mehr zustande gebracht, weil sich die Staaten gegenseitig blockieren."

Bleibt die Müllabfuhr. Ideen und Initiativen zur Entsorgung von Weltraumschrott existieren zuhauf. Seit Jahren arbeitet die Esa zum Beispiel an der Mission e.Deorbit. Ihr Ziel ist es, den defekten Erdbeobachtungssatelliten Envisat - einen Koloss, größer als ein Reisebus - zu greifen und umweltgerecht zu entsorgen. Es wäre an der Zeit: Die Wahrscheinlichkeit, dass der Brocken bis zu seinem natürlichen Absturz in 150 Jahren mit einem anderen Objekt kollidiert, liegt bei erschreckend hohen 18 Prozent. "Das wäre ein echtes Desaster", sagt Projektleiter Robin Biesbroek.

Als die Raumfahrtminister der 22 Esa-Mitgliedsstaaten vergangenes Jahr in Luzern über die Finanzen der Organisation berieten, stand e.Deorbit dennoch nicht auf der Tagesordnung. Bereits im Vorfeld hatte sich abgezeichnet, dass es am Geld fehlt. Nun will er es in drei Jahren, beim nächsten Treffen, noch einmal versuchen - vorausgesetzt, bis dahin kommen 41 Millionen Euro zusammen, um die Missionsvorbereitungen am Laufen zu halten. Bislang schaut es nicht danach aus.

Immerhin: Die Machbarkeit solch eines Vorhabens soll untersucht werden. Ende des Jahres wollen die Europäer RemoveDebris starten, gefördert mit 15 Millionen Euro der EU-Kommission. Er soll beweisen, dass sich defekte Satelliten mit einem Netz oder einer Harpune bändigen lassen. Der Fang könnte dann in eine niedrigere Umlaufbahn geschleppt werden und dort verglühen. "In den vergangenen Jahren gab es zwar viele Simulationen, viele Theorien zur Müllentsorgung, aber kaum echte Missionen", sagt RemoveDebris-Projektleiter Jason Forshaw von der University of Surrey im Südosten Englands.

Greifer, Harpunen, Netze. Nicht jeder ist begeistert von den neuen Möglichkeiten, schließlich können diese sowohl friedlich als auch aggressiv genutzt werden. "Eine Frage, die wir sehr genau beobachten müssen, lautet: Wer macht da oben eigentlich was?", sagt Oberst Spangenberg. Auch wenn sich Angriffe niemals verhindern lassen, wollen die Betreiber zumindest wissen, ob sich jemand an ihre Satelliten heranpirscht - und notfalls auf politisch-diplomatischer Ebene aktiv werden. "Es ist essenziell, dass wir jederzeit ein eigenes Bild von der Lage im Weltraum haben", sagt DLR-Manager Braun.

Auch deshalb wird Gestra gebaut unddas WRLageZ bis zum Jahr 2020 auf 58 Mitarbeiter aufgestockt - einschließlich eines festen Gebäudes, ganz ohne Container. Und zumindest sprachlich ist man in Uedem, im Schatten der niederrheinischen Milchstraße, schon jetzt auf weitere Aufgaben vorbereitet. Die Spalte, die auf der großen Monitorwand vor Kollisionen warnt, trägt eine vielsagende Überschrift. Sie heißt: Annäherungen.

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