Süddeutsche Zeitung

Weltklimarat:Die unberechenbare Uhr des Klimawandels

Sterbende Korallen, steigender Meeresspiegel, schmelzende Polkappen - was in den Ozeanen passiert ist eine Katastrophe, gegen die jetzt etwas getan werden muss.

Kommentar von Marlene Weiß

Der Klimawandel wird oft und zu Recht als Generationenkonflikt bezeichnet. Allerdings steht dabei naheliegenderweise meist die Generation der Älteren, die einen großen Teil des Schadens angerichtet hat, gegen jene der Kinder und Jugendlichen, die ihn ausbaden muss. Aber was ist eigentlich mit jenen, die erst noch geboren werden? Wer immer nur auf die Zeit von 2050 bis 2100 starrt, die einige von uns erleben werden und andere nicht, verliert all das aus dem Blick, was danach noch kommt. Es ist das Erbe, das die heutigen Menschen ihren Nachkommen hinterlassen werden.

Das betrifft insbesondere den Anstieg des Meeresspiegels, wie der an diesem Mittwoch veröffentlichte Sonderbericht des Weltklimarats IPCC zu Ozeanen und Eis wieder einmal zeigt. Denn die Katastrophe in den Ozeanen vollzieht sich auf unterschiedlichen Zeitskalen. Manches, wie das Sterben der Korallen, spielt sich gerade in rasendem Tempo ab. Anderes zeigt sich über Jahrzehnte, etwa die Effekte der Versauerung durch CO₂, das ins Wasser gelangt. Der Anstieg des Meeresspiegels ist ein Prozess, der Jahrtausende andauert.

Die Uhr des Klimawandels hört keineswegs im Jahr 2100 auf zu ticken, auch dann nicht, wenn sich die Temperatur bis dahin bei ein, zwei oder drei Grad mehr als heute stabilisiert haben sollte. Eismassen wie auf Grönland oder in der Antarktis reagieren enorm langsam auf Erwärmung. Manche Forscher meinen zwar, dass die Westantarktis bereits instabil geworden sei und unweigerlich ins Meer abrutschen werde. Auch Grönland könnte schon bei wenig mehr Erwärmung den Kipppunkt überschreiten, ab dem die Eisdecke ohne weitere Aufheizung komplett kollabiert. Für menschliche Begriffe aber dauern diese Vorgänge eine Ewigkeit.

Bis zum Jahr 2300 sagen die IPCC-Autoren je nach weiterer Entwicklung der Emissionen einen Meeresspiegelanstieg um etwa ein bis fünf Meter voraus. Insgesamt reicht allein das Eis in Grönland und der Westantarktis jedoch für circa elf Meter; die riesige Ostantarktis speichert umgerechnet rund 53 Meter Anstieg.

Was dem Planeten genau bevorsteht, lässt ein Blick in die Vergangenheit ahnen. Auch wenn die Menschheit derzeit zum ersten Mal austestet, was ein CO₂-Gehalt von 415 ppm (Teilchen pro Million) in der Luft mit dem Klima macht, für die Erde ist das nicht neu. Zuletzt war das Niveau im Pliozän so hoch, vor rund drei Millionen Jahren. Damals war es etwa zwei bis drei Grad wärmer als heute. Der Meeresspiegel lag zehn bis 40 Meter höher als derzeit, und in der Antarktis wuchsen Bäume.

Man kann aus dem Klima der Vergangenheit nicht direkt jenes der Zukunft ableiten, zu kompliziert sind die vielfältigen Einflüsse. Aber Anhaltspunkte liefern solche Vergleiche sehr wohl. Wenn die Atmosphäre dauerhaft bei weit mehr als 400 ppm CO₂ verharrt, wovon man wegen der Langlebigkeit des Treibhausgases und der Hasenfüßigkeit der politischen Reaktion derzeit ausgehen muss, kann man erwarten, dass das Klima langfristig ähnlich reagiert wie einst im Pliozän.

Das ist nichts, was heutige Generationen direkt betrifft. Aber es kann nicht schaden, es im Kopf zu behalten: Die aktuellen Entscheidungen werden das Erscheinungsbild der Erde bis lange nach unserer Zeit prägen. Nie zuvor hatte eine Gesellschaft eine solche Macht über die Zukunft.

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Quelle:
SZ vom 26.09.2019
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