Süddeutsche Zeitung

Kartografie:Schöne neue Scheibenwelt

Klassische Atlanten zeigen Länder häufig viel zu groß oder klein. Princeton-Forscher haben nun eine radikal neue, scheibenförmige Karte der Erde entwickelt, die mit den bisher geringsten Verzerrungen auskommt.

Von Christoph von Eichhorn

Apple Maps mag eine Erfindung des 21. Jahrhunderts sein, doch funktioniert die App nur dank Gleichungen aus dem 16. Jahrhundert. Wer damit eine Route betrachtet oder einen Stadtplan, sieht eine Mercator-Projektion. Diese zweidimensionale Abbildung der Erdkugel entwickelte der flämische Gelehrte Gerhard Mercator erstmals 1569. Eine revolutionäre Technik, mit der man um die Welt segeln konnte - die allerdings auch Nachteile hat.

So ist die Mercator-Projektion zwar winkeltreu, was für die Navigation entscheidend ist. Jedoch verzerrt sie Flächen umso stärker, je näher man zu den Polen kommt. So wirkt die Insel Grönland mit einer Fläche von 2,2 Millionen Quadratkilometern auf einer Mercator-Weltkarte genauso groß wie Afrika mit 30 Millionen Quadratkilometern. Die Antarktis erscheint ausgedehnter als alle Kontinente zusammen, obwohl sie wenig mehr Fläche als Europa hat. Die Pole selbst können gar nicht vernünftig dargestellt werden, sie erscheinen auf einer Mercator-Projektion nicht als Punkte, sondern als Linien.

Drei US-Wissenschaftler haben nun eine Weltkarte entwickelt, die nach ihren Berechnungen die bislang genaueste zweidimensionale Abbildung der Erde darstellt. Der Trick: Es handelt sich nicht um eine rechteckige Landkarte, sondern um eine runde Scheibe, ähnlich einer Schallplatte mit Vorder- und Rückseite. Eine Seite zeigt die nördliche Hälfte der Erde, die andere die südliche Hemisphäre. Am Rand der Scheibe verläuft der Äquator. Man kann die beiden Scheiben natürlich auch nebeneinanderlegen, um die ganze Erde auf einmal zu sehen.

Mit sechs Arten von Verzerrungen haben Kartografen zu kämpfen

"Es ist, als ob man die Luft aus einem Luftballon ablässt", sagt Richard Gott, emeritierter Professor für Astrophysik an der Universität Princeton, einer der Schöpfer der Karte. Aus dem runden Ballon werde ein flaches Gebilde. Ähnlich werde mittels der neuen Technik aus der dreidimensionalen Erdkugel eine zweidimensionale Scheibe - die Flächen und Entfernungen deutlich akkurater zeige als andere Projektionen.

Was im Rückblick einleuchtend erscheint, ist das Ergebnis jahrzehntelanger Beschäftigung mit Kartografie. 2007 entwickelte Gott zusammen mit David Goldberg von der Drexel-Universität eine Skala, um die Verzerrungen von Karten nach sechs Kriterien zu bewerten: lokale Formen, Flächen, Entfernungen, Beugung von Geraden, "Schiefheit" und Grenzschnitte. Letzteres wäre in einer klassischen Weltkarte an der Wand eines Klassenzimmers schlicht das Ende des Papiers, der Schnitt durch den Pazifik. Dadurch liegt Japan ganz rechts und Hawaii ganz links - obwohl beide Inselgruppen natürlich in Wahrheit fast Nachbarn sind. Die einzig perfekte Darstellung der Erde ist gemäß der Verzerrungsskala von Gott und Goldberg ein Globus, er hat auf der Skala den Wert 0.

Will man die Erdkugel hingegen zweidimensional abbilden, muss man Kompromisse eingehen, wie schon unzählige Kartografen feststellen mussten. So erreicht die Mercator-Projektion auf der Skala 8,30. Sie verzerrt nicht nur Flächen, sondern etwa auch Distanzen und Wegstrecken. Wenn man von New York auf geradem Weg nach Tokio fliegt, würde die Flugroute nicht wie eine gerade Linie aussehen, sondern wie eine gebogene. Am besten schnitt bislang die Winkel-Tripel-Projektion ab, ein 1921 von Oswald Winkel vorgestellter Entwurf, den etwa die National Geographic Society für Weltkarten verwendet.

Sie stellt einen Kompromiss aus Flächen- und Winkeltreue dar, verzerrt also die Größen von Gebieten weniger, was allerdings erfordert, dass die Breitengrade gebogen werden müssen. Insgesamt erreicht die Winkel-Tripel-Karte die Verzerrungsnote 4,56. Für Richard Gott, David Goldberg und den ebenfalls in Princeton forschenden Mathematiker Robert Vanderbei kein sonderlich zufriedenstellendes Ergebnis. Zwar gelang es dem Trio zunächst, mit einigen Kniffen die Winkel-Tripel-Projektion noch zu verbessern, aber nur minimal. Die entscheidende Inspiration lieferte schließlich Gotts Arbeit zu Polyedern - vielflächigen Gebilden, zu denen auch Würfel zählen - und einer Karte von Émile Guyou aus dem Jahr 1886, in der westliche und östliche Hemisphäre separat abgebildet werden, getrennt durch eine Nord-Süd-Linie im Atlantik.

Die Lösung: falten! Faltet man diese Karte in der Mitte quer durch den Atlantik, erhält man eine zweiseitige Karte mit geringeren Verzerrungen, allerdings eine rechteckige. Von diesem Schritt war es für die Wissenschaftler nicht mehr weit zu der doppelseitigen Scheibe. Auf der Verzerrungsskala erreicht die neue "azimutale Äquidistanz-Projektion", so der genaue Ausdruck, einen Rekordwert von 0,881. Sie schneidet auch in allen sechs Einzelkategorien besser ab als die Winkel-Tripel-Projektion. So gibt es auf der Doppelscheibe eine absolute Obergrenze für Verzerrungsfehler von Entfernungen von 22,2 Prozent, während dieser Wert auf anderen Karten in hohen Breitengraden massiv ansteigt. Die Fehler seien geringer, weil es leichter sei, eine Hemisphäre auf einmal zu kartieren als beide zugleich, heißt es in einem Paper, das die Forscher dazu veröffentlicht haben. Der Preis ist jedoch eine Vorder- und eine Rückseite.

Die neue Karte ist noch in anderer Hinsicht ungewöhnlich: Die beiden Pole bilden das Zentrum jeder Seite. Dadurch werden jedoch die Kontinente Südamerika, Afrika und einige Staaten Südostasiens am Äquator durchtrennt, erstrecken sich also auf beiden Seiten der Scheibe. "Sie hängen nur über die Seiten drüber, wie ein Stück Wäsche auf einer Wäscheleine", meint hingegen Richard Gott. "Wenn man eine Ameise ist, kann man vom nördlichen Teil Südamerikas aus über den Rand krabbeln und gelangt in den südlichen." Aus diesem Grund werten die Erfinder die Grenzziehung am Äquator auch nicht als Verzerrung, denn es gehe ja auf der anderen Seite weiter - eine Einstufung, über die man wohl streiten kann.

Allerdings müssen die Pole nicht im Zentrum stehen, es ist genauso eine Äquatorialversion möglich. Dann zeigt eine Seite der Scheibe die westliche Hemisphäre mit der Pazifikregion, Neuseeland, Nord- und Südamerika, die andere den Rest der Erde mit Afrika, Eurasien und Australien.

Die US-Forscher haben auch schon einige andere Planeten wie den Mars, den Jupiter oder den Saturn auf diese Weise kartiert. Am Saturn tobt am Nordpol permanent ein sechseckig geformter Sturm, der durch die polare Darstellung besonders zur Geltung kommt.

Auf dem Mars lassen sich die im Vergleich zur Erde winzigen Polkappen erkennen.

Der Mercator-Projektion ist die Doppelscheibe trotzdem nur in fünf von sechs Punkten überlegen. Daher wird sie auch so schnell nicht Kartendienste wie Apple Maps reformieren. Der entscheidende Grund, warum dafür Mercator verwendet werde, sei, dass diese Projektion lokale Formen perfekt hinbekomme, sagt Richard Gott. Wenn man auf dem Handy etwa eine Stadt vergrößert, dann erscheint diese genauso, wie sie tatsächlich aussieht. "Diese Karte wurde designt, damit man reinzoomen kann." Google Maps stellte 2018 zumindest in der Desktop-Version auf ein Kugelmodell um.

Die US-Forscher sehen mögliche Anwendungen ihrer Doppelprojektion eher im Unterricht, um Schülern ein genaueres Bild der Erde zu vermitteln. Die Scheiben könne man leichter an Schüler verteilen als unzählige Globen und sie auch einfacher verstauen indem man sie übereinanderstapelt, sagt Gott. Man könne sie anfassen, rotieren, und eben umdrehen. "Das könnte einer der seltenen Fälle sein, wo die nicht-digitale Welt etwas voraushat."

Wer die Karte selbst nachbasteln will, kann eine Vorlage von Robert Vanderbei verwenden. Sie ist unter diesem Link zu finden.

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