Klimakrise:Das Meer kommt

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Um rechtzeitig vor Ort zu sein, wenn meterhohe Wellen auf Land schlagen, studierte die Fotografin täglich Wettervorhersagen.

(Foto: Rachael Talibart)
  • Der Klimawandel lässt das Meer ansteigen. Und er gibt den Wellen und Stürmen mehr Kraft.
  • Allerdings ist es schwer, Deiche für Jahrzehnte zu planen, wenn man nicht weiß, um wie viel das Wasser genau steigen wird.
  • Dabei ist es möglich, dass Grönland und die Westantarktis ihre Eisschilde komplett ans Meer abgeben und es um rund zehn Meter ansteigen lassen.

Text: Marlene Weiß, Fotos: Rachael Talibart

Es ist der 15. Januar 1362, als die Nordsee sich erhebt. Als die Wellen kommen, brechen die Deiche an Hunderten Stellen, das Wasser steht zweieinhalb Meter über der Deichkrone. Erst am 17. Januar 1362 geht die Sturmflut zurück, die heute als "Grote Mandränke" oder "Zweite Marcellusflut" bekannt ist. Bis dahin sind Zehntausende ertrunken. Der Ort Rungholt, mit rund 2000 Einwohnern ähnlich groß wie das damalige Kiel, ist mit großen Teilen Nordfrieslands im Meer versunken.

In den Jahrzehnten zuvor war der Meeresspiegel gestiegen, vor allem auf Kosten der Landfläche. Entwässerung, Torfabbau und Erosion hatten das Land absacken lassen. Heute lässt der Klimawandel das Meer ansteigen. Und er gibt den Wellen und Stürmen mehr Kraft. Mit der steigenden Temperatur der Meeresoberfläche verstärken sich die Winde und die mittlere Höhe der Wellen steigt, ihr Tempo wächst. Vor allem extreme Wellen wachsen, wie Satellitenaufnahmen zeigen, um bis zu 0,9 Prozent pro Jahr. Anfang des Jahres berichteten Forscher um Borja Reguero in Nature Communications, dass die mittlere jährliche Energie, die von Wellen transportiert wird, seit 1950 um rund ein Drittel gestiegen ist.

Zugleich nimmt die Zahl der Stürme zu. Das zeigte sich zum Beispiel im Winter 2013/2014, als eine Serie von Stürmen die europäischen Atlantikküsten angriff. Für sich genommen waren die Unwetter nicht extrem, die dichte Abfolge aber war es. Viele Strände entlang der britischen, französischen und iberischen Atlantikküsten wurden schwer erodiert und haben sich bis heute nicht erholt.

Allein im Juli dürfte Grönland durch die Hitze 180 Milliarden Tonnen Eis verloren haben

Auch wenn das globale Klimaphänomen El Niño die Meeresoberfläche aufheizt, zeigt sich der Effekt. "In Kalifornien weiß jeder, dass in El-Niño-Jahren auch die Wellen anders sind", sagt Reguero, der unter anderem an der University of California in Santa Cruz forscht. Und dieser Zusammenhang gilt eben auch grundsätzlich - wird das Wasser wärmer, gewinnen die Wellen an Kraft. "Das müssen wir im Küstenschutz einplanen, die Strukturen müssen das aushalten", sagt Reguero.

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Mit seinem steil abfallenden Strand und der Hafenmauer schien Newhaven schließlich der perfekte Ort für ihre Aufnahmen zu sein.

(Foto: Rachael Talibart)

Allerdings ist es schwer, Deiche für Jahrzehnte zu planen, wenn man nicht weiß, um wie viel das Wasser steigen wird. Heute liegt der Meeresspiegel knapp 25 Zentimeter höher als zur Zeit der industriellen Revolution. Im globalen Bericht des Weltklimarats aus dem Jahr 2013 hieß es noch: bis 2100 könnten allerschlimmstenfalls 85 Zentimeter hinzukommen, eher nur 35.

Inzwischen ist weitgehend Konsens, dass diese Zahlen zu niedrig sind. Derzeit steigt der Meeresspiegel laut aktuellen Nasa-Satellitendaten um etwa 3,3 Millimeter im Jahr, das dürfte sich beschleunigen. In einer kürzlich in der Fachzeitschrift PNAS veröffentlichten Expertenumfrage lagen die Schätzungen im Mittel bei 60 bis 100 Zentimeter Anstieg bis 2100, je nach Temperaturerhöhung. Aber auch zwei Meter und mehr hielten viele Fachleute noch für plausibel. Flache Inseln würden versinken und große, dicht bevölkerte Küstenregionen wären massiv gefährdet.

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Ihre Beharrlichkeit zahlte sich aus: Sturm Imogen traf Anfang 2016 mit voller Wucht auf die Küste von East Sussex.

(Foto: Rachael Talibart)

Doch wie schnell und wie weit das Wasser steigt, hängt von den Kippelementen im Klimasystem ab, etwa von den großen Eisschilden der Erde. Auch wenn es mindestens Jahrhunderte, eher Jahrtausende dauern würde: Es ist möglich, dass Grönland und die Westantarktis selbst bei einem Temperaturanstieg von unter zwei Grad ihre Eisschilde komplett ans Meer abgeben und es um rund zehn Meter ansteigen lassen. Je weiter die Temperatur steigt, desto höher das Risiko, dass dieser Prozess nicht mehr zu stoppen ist.

Dahinter stehen selbstverstärkende Effekte. In Grönland gibt es einen Mechanismus, den man vom Bergsteigen kennt, sagt Ricarda Winkelmann vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung: "Je höher man kommt, desto kühler wird es." Umgekehrt gelange die Eisdecke in immer wärmere Temperaturzonen, je weiter sie sich absenkt. Dadurch verstärkt sich das Schmelzen ab einem gewissen Punkt unaufhaltsam von selbst. Allein in diesem Juli, schätzen Forscher des dänischen Meteorologie-Instituts, dürfte Grönland durch die extreme Hitze rund 180 Milliarden Tonnen Eis verloren haben, macht etwa einen halben Millimeter Meeresspiegelanstieg.

New York improvisiert mit Sandsäcken

In der Westantarktis hingegen droht Gefahr von unten. Hier führt das wärmere Wasser zum Schmelzen. Im Jahr 2016 hatte zudem eine Studie der US-Forscher Robert DeConto und David Pollard Aufsehen erregt. Die Forscher berichteten, dass kollabierende Eisklippen noch in diesem Jahrhundert das Schmelzen am Südpol dramatisch beschleunigen könnten. Laut einer neueren Studie jedoch dürfte sich das doch nicht ganz so schnell auswirken. Die Diskussionen gehen also weiter.

"Vielleicht wirkt es so, dass die Unsicherheit größer geworden ist", sagt Ricarda Winkelmann. "Das bedeutet aber nicht, dass wir weniger wissen, sondern im Gegenteil, dass wir ein besseres Prozessverständnis haben. Das führt dazu, dass es zwischen den Abschätzungen eine immer genauere Spanne gibt."

Letztlich muss man hinnehmen, dass Naturkatastrophen nun mal Schäden verursachen

Klar ist, dass der Mensch sich gegen Wasser und Wellen schützen muss. Shanghai baut riesige Hochwasserschutzmauern und Fluttore. Die Niederlande verfügen längst über fünf große Sturmfluttore. Singapur erhöht Straßen und forstet Mangrovenwälder an der Küste auf. New York improvisiert vorerst noch mit Mauern aus Sandsäcken. Langfristig will Bürgermeister Bill de Blasio zehn Milliarden Dollar investieren, um Manhattan Island mit Sand- oder Schotteraufschüttungen in den East River zu verlängern. So soll eine Pufferzone als Schutz vor den Fluten entstehen.

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Rachael Talibart nannte ihre Fotoserie "Sirens", die Sirenen. Mehr zu Ihren Projekten finden Sie auf ihrer Website.

(Foto: Rachael Talibart)

Im Küstenschutz tut sich viel. "Man kann künftig Deiche mit Sensorik zur Überwachung von Sturmflutschäden ausstatten", sagt Jürgen Jensen, Wasserbau-Experte von der Uni Siegen. Auch Pflanzen werden häufiger eingesetzt, Seegras- oder Reet-Bereiche vor dem Deich können die Kraft der Wellen dämpfen. Europa mit seinen modernen Deichen und der jahrhundertelangen Erfahrung kann dem Meeresspiegelanstieg vergleichsweise gelassen entgegensehen. An flachen, tief liegenden und dicht besiedelten Küsten in Afrika oder Asien sieht es anders aus.

"Viele Entwicklungs- und Schwellenländer wiederholen unsere Fehler", sagt Jensen, der auch international Projekte betreut. "Dort, wo wir in Namibia arbeiten, wird viel zu dicht am Meer gebaut und auf massiven, starren Küstenschutz gesetzt, mit Strandmauern und Steinvorschüttungen", sagt Jensen. Das dürfte nicht gut enden, denn damit ist man Mitte des 20. Jahrhunderts auch vor Westerland auf Sylt gescheitert. Solche Bauwerke verhindern den natürlichen Sandtransport parallel zur Küste. Am Ende der Mauer wird der Sand weggerissen, es kommt zur sogenannten Lee-Erosion.

Trotzdem ist Jensen weniger pessimistisch als viele Klimaforscher, schließlich liegen schon heute Küstenstädte unter dem Meeresspiegel. Ja, vielleicht müssten manche Bereiche aufgegeben werden, meint er. Andere könne man vielleicht anheben oder Deiche und Fluttore bauen. Evakuierungssysteme seien wichtig, um Menschen zu schützen. Letztlich müsse man hinnehmen, dass Naturkatastrophen Schäden verursachen: "Dann baut man eben wieder auf", sagt Jensen.

Auch nach dem Untergang von Rungholt im 14. Jahrhundert hätte man Friesland verloren geben können. Aber die Menschen bauten Deiche. Über die Jahrhunderte griffen die Wellen immer wieder an, bessere Deiche folgten. Die 1962er-Sturmflut in Hamburg war eine Katastrophe mit Hunderten Toten. Aber bei der ähnlich heftigen Flut 1976 passierte kaum noch etwas. Als die Wellen wieder kamen, hielten die Deiche stand.

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