Weicher Naturalismus:Habermas und die Willensfreiheit

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Sollten die Neurologen um Wolf Singer und Gerhard Roth zu recht die Willensfreiheit auf dem Schuttplatz der Geschichte entsorgen, dann hätte es ein Ende mit allen Prinzipien, als deren gewichtigster Fürsprecher Habermas gilt. Der "Umbau unserer Lebensform im ganzen", sagte er, wäre die Folge.

Alexander Kissler

Vielleicht sind die Schweizer nicht nur ein "einig Volk von Brüdern". Vielleicht ist die Eidgenossenschaft eine Gemeinschaft überzeugter Deterministen: Im helvetischen Sprachraum wird nicht gedacht, sondern gehirnt. Wenn Schweizer sich den Kopf zerbrechen, dann, so sagen sie, hirnen sie.

Habermas sieht die Grundlagen des Zusammenlebens von zwei Seiten gefährdet. (Foto: Foto: ddp)

Schlummert also im Schweizerdeutsch eine Intuition, die die avancierte Neurobiologie gerade zu beweisen sucht? Dass es nämlich das Gehirn ist und nur das Gehirn, das sämtliche geistigen Vorgänge kausal bestimmt? Dass es keine Willensfreiheit gibt, weil der Mensch tun muss, was Neuronen und Synapsen ihm lebenslang vorgeben?

Jürgen Habermas wäre für eine solche begriffsgeschichtliche Spekulation empfänglich, hat er doch in seinen jüngsten Vorträgen und Aufsätzen die Sprachphilosophie wieder in den Mittelpunkt gerückt.

Der Satz von 1967, wonach die Sprache "das Gespinst" sei, "an dessen Fäden die Subjekte hängen und an ihnen zu Subjekten sich erst bilden", erhält neue Brisanz in den Debatten um die eugenisch oder neurobiologisch verfasste Zukunft des Menschen.

Ganz dieser Spur folgte nun seine Berliner Rede, die er auf Einladung der norwegischen Botschaft in der Akademie der Künste hielt. Aus Anlass des Holberg-Preises, der ihm am 30. November vergangenen Jahres in Bergen verliehen worden war, wollte Habermas "die Willensfreiheit an dem Ort aufsuchen, wo sie auftritt - im Sprachspiel verantwortlicher Urheberschaft".

Sollten die Neurologen um Wolf Singer und Gerhard Roth zu recht die Willensfreiheit auf dem Schuttplatz der Geschichte entsorgen, dann hätte es ein Ende mit allen Prinzipien, als deren gewichtigster Fürsprecher Habermas gilt.

Der "Umbau unserer Lebensform im ganzen", sagte er, wäre die Folge. Es gäbe kein "Bewusstsein von Freiheit" mehr, die juristische Ausnahme, der "schuldausschließende Sonderfall der Drogeneinwirkung oder der chemisch unterstützen Gehirnwäsche", würde zur Regel, das Dasein hoffnungslos aporetisch.

Anwalt des Alltagsbewusstseins

Niemand müsste, niemand könnte sich für seine Taten verantworten, wenn nicht "fehlbare Personen aus Fleisch und Blut", sondern Gehirne und deren unbewusst ablaufende Kausalketten die Akteure wären.

Es gäbe keine Diskurse mehr und keine Gesellschaft als Diskursgemeinschaft, gäbe auch nicht die Kraft des Arguments, wenn jeder nur nachvollzöge, "was in den bewusstseinsferneren Regionen des Gehirns längst festgelegt worden ist."

Vor allem aber: Die "Vorstellung, dass Personen durch absichtliche Interventionen Zustandsänderungen in der Welt hervorrufen können," wäre abwegig. Stumm und starr bliebe die Welt.

Die Verve, mit der Habermas am Streit der Fakultäten teilnimmt, erklärt sich aus einer, wie er es sieht, doppelten Bedrohung der Grundlagen des Zusammenlebens. Diese werden demnach von zwei Seiten gefährdet.

Religiöse Orthodoxien auf der einen Seite und auf der anderen Seite ein Naturalismus, der "alles Verständliche und Erlebte auf Beobachtbares reduziert" - so eine Formulierung vom März 2005 - halten die Gesellschaft im Klammergriff.

Bei seiner Rede zur Entgegennahme des Kyoto-Preises im November 2004 kritisierte er die Vorstellung, subjektive Gründe seien nur "mitlaufende Kommentare zum unbewussten, neurologisch erklärbaren Verhalten" und plädierte für einen "nicht-szientistischen oder weichen Naturalismus". Dessen Konturen wurden jetzt deutlich.

Er distanzierte sich von der Wissenschaftsgläubigkeit jenes harten Naturalismus, demzufolge die Welt kausal geschlossen und darum alles erklärbar sei als Folge materialistisch gedachter Kausalbeziehungen.

Ein solchermaßen zugespitztes naturwissenschaftliches Weltbild nehme von der Realität nur wahr, was sich "unter dem Aspekt der Verfügbarmachung" objektivieren, also messen und gebrauchen ließe.

Kaum jedoch werde es den harten Naturalisten gelingen, der Öffentlichkeit mit "experimentellen Methoden und Messverfahren jetzt auch den Weg von den Neuronen zu Bewusstsein und Kultur zu eröffnen." Der menschliche Geist sei nun einmal normengeleitet, beziehe sich absichtsvoll auf die ihn umgebende Welt.

Er hängt, ließe sich sagen, nicht am Gängelband der Ganglien, sondern wird, was er ist, im Austausch mit anderen Personen. Gegen die Behauptungen der Hirnforscher spreche auch ein Dualismus, der laut Habermas unhintergehbar ist: die Alltagssprache und die Wissenschaftssprachen.

Und solange es keine gemeinsame Ausdrucksform der beiden Sprachsphären gebe, werde die "begriffliche Hartnäckigkeit" obsiegen, mit der die Menschen von sich in der ersten Person reden und nicht von sich als dialogisierende Hirne. Gerne sei er, Habermas, hier ein Anwalt des Alltagsbewusstseins.

Dieser Dualismus hat seine Wurzeln im ebenfalls unausgleichbaren Gegenüber von Teilnehmer- und Beobachterperspektive. Der Mensch sei beides zugleich, während die Neurowissenschaft suggeriere, die perfekte Selbstobjektivierung sei möglich, die reine Beobachtung.

Doch auch die Forscher sind - so lautet ein Klassiker der Diskurstheorie - Teilnehmer ihrer Forschung. "Die Forschungspraxis selbst kann nicht (. . .) vollständig als innerweltlich determiniertes Geschehen beschrieben werden."

In seiner Einführung stellte Adolf Muschg Habermas als Sprachschöpfer vor. Wird also von dessen Rede, die an den namentlich beschwiegenen Sprachschöpfer Adorno anknüpfte, ein "rettendes Wort" bleiben?

Adorno zufolge schnurren ja "die Entscheidungen des Subjekts nicht an der Kausalkette ab, ein Ruck erfolgt."

Bleiben wird gewiss Habermas' Schlussplädoyer, die natürliche Evolution "auf eine nichtmetaphorische Weise als Lernprozess zu begreifen" und so Kant mit Darwin zu versöhnen.

Bleiben wird wohl auch die fast schon romantische Volte kurz zuvor: Die Postulate der Lebenswissenschaften seien als ganzes noch nicht theoriefähig. Man könne nur "verstreute Evidenzen zusammensuchen, um von der Entstehung soziokultureller Lebensformen die eine oder andere Geschichte zu erzählen."

Ein Geschichtenerzähler ist der Mensch, Fragmente sammelnd und Welten fragmentierend: Auch Ludvig Holberg, der Dichter, Historiker und Moralist aus Bergen, hätte an einer solchen Pointe seine Freude.

© SZ vom 19.01.2006 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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