In einer Welt des Überflusses herrscht ein steter Mangel: Niemand hat Zeit. Ständig ist was los, der alltägliche Wahnsinn. Die Terminkalender platzen und eine Verabredung, ein Meeting, eine Besprechung soll immer noch untergebracht werden. Ach, und die Kinder müssen zum Sport und der Keller gehört ausgemistet. Die To-do-Listen wachsen, und ständig bleibt etwas auf der Strecke - Partner, Beruf, Hobbys.
Die große Mehrheit der Befragten gab jüngst in der Vorwerk-Familienstudie an, sie würden so gerne mehr Zeit mit ihrer Familie verbringen, aber die Umstände ließen das ja nicht zu. Wie sollen alle die zeitverhungerten Menschen mit dem Mangel umgehen? Psychologen um Cassie Mogilner von der Universität Pennsylvania geben eine Empfehlung, die zunächst ebenso kontraproduktiv wie erstaunlich klingt: Verschenken Sie Zeit an andere! Dann stelle sich das Gefühl ein, man selbst verfüge über mehr Zeit, berichten die Forscher im Fachblatt Psychological Science (online).
Die Wissenschaftler ließen ihre Probanden in mehreren Versuchen Aufgaben erledigen und fragten dann ab, wie sie ihr generelles Zeitbudget einschätzten. In einem Test mussten die Teilnehmer zum Beispiel entweder einen Brief an ein krankes Kind schreiben oder zählen, wie oft der Buchstabe E in einem Text auftauchte. Für beide Aufgaben hatten die Probanden fünf Minuten Zeit. Wer aufmunternde Zeilen an das Kind in Not formuliert hatte, fühlte sich anschließend weniger unter Zeitdruck als jene Probanden, die sich mit der sinnlosen Tätigkeit beschäftigt hatten.
Ähnliche Ergebnisse erzielten die Psychologen auch, als sie ihre Probanden entweder aufforderten, sich an einem Samstag zehn Minuten Zeit zu nehmen und etwas Schönes für sich zu machen oder 30 Minuten zu opfern, um einem anderen Menschen zu helfen. Sich Zeit für sich selbst zu nehmen, bringt demnach nicht viel: Wer den Druck aus seinem Leben verbannen will, sollte anderen seine Zeit geben.
Aber warum fühlt sich ein Mensch unter stärkerem Zeitdruck, der objektiv mehr Zeit hat? "Wer anderen hilft, empfindet seine Zeit als erfüllter", schreiben die Psychologen um Mogilner. So stelle sich das Gefühl ein, etwas erreicht zu haben - "und je stärker man die Ansicht hat, mit seiner Zeit etwas angefangen zu haben, desto geringer fällt das Gefühl aus, keine Zeit zu haben", so die Autoren.
Das klingt etwas umständlich, fasst aber eine altbekannte Situation zusammen: Man sitzt auf dem Sofa, schaut lustlos fern, zappt durch die Kanäle und schaltet nach viel zu langer Zeit den Fernseher aus - und ist unzufrieden. Wer hingegen trotz innerer Widerstände etwa den Keller ausgeräumt hat, der ist anschließend entspannt und glücklich.
Natürlich hat die Sache einen Haken
Die Studie deckt sich mit bekannten Ergebnissen. Zeit mit anderen Menschen zu verbringen, stifte Sinn, berichteten etwa Forscher um Francesca Gino von der Harvard Business School vor zwei Jahren im Fachmagazin Journal of Personality and Social Psychology. Prosoziale Tätigkeiten verleihen Menschen das Gefühl, effektiv zu handeln und kompetent zu sein, so die Wissenschaftler. Und Forscher um Gal Zauberman von der University of Pennsylvania beschrieben in Psychological Science 2010, dass eine Zeitspanne als länger empfunden wird, wenn darin mehr erreicht wird.
Die Sache hat - wie alles im Leben - einen Haken. Je stärker Menschen unter Zeitdruck sind, desto geringer ist die Wahrscheinlichkeit für prosoziales Verhalten. Je hektischer das Leben etwa in Großstädten ist, desto seltener boten deren Einwohner Fremden Hilfe an, beobachtete der Verhaltensökonom David Levine.
Und auch einer der bekanntesten Versuche der Psychologie schürt wenig Hoffnung, dass gestresste Menschen das Richtige tun und zu ihrem eigenen Besten anderen helfen: 1973 baten John Darley und Daniel Batson Priesteranwärter zu einem Gespräch, um die Bibelgeschichte des guten Samariters zu diskutieren. Auf der Treppe zum Seminarraum lag ein Mensch, der offensichtlich Hilfe brauchte. Waren die künftigen Priester spät dran und unter Zeitdruck, halfen sie eher nicht.