Wawilow-Institut in St. Petersburg:Die Acht-Billionen-Dollar Bank

Gen-Datenbank für Pflanzen - Institut Wawilow / Vavilov Research Institute of Plant Industry

Am Institut Wawilow lagern die Samen von mehr als 320.000 Kulturpflanzen

(Foto: Eric Vazzoler)

In St. Petersburg wacht ein kleiner Kreis alter Forscher über die Nahrungsmittelsicherheit der Welt. Doch nur die Sturheit der Wissenschaftler hält das Wawilow-Institut am Leben. Nicht nur ihr Gehalt ist ein Witz.

Von der "natur"-Autorin Diana Laarz

Natürlich ist Elena Blinowa nicht Aschenputtel. Doch sie erinnert ein bisschen daran. Aus von der Zeit vergilbten Papiertütchen mit der Aufschrift "Avena Sativa" schüttet die russische Wissenschaftlerin Hunderte streichholzkopfgroße Samen auf eine weiße Platte - Saathafer, Familie der Süßgräser, schon ein wenig in die Jahre gekommen. Dann huschen ihre Finger über die Saat und nehmen immer ein Samenkorn mit. Die guten in die linke Ecke, die grauen, braunen und versehrten in die rechte. Die guten ins Töpfchen, die schlechten ins Kröpfchen. "Aschenputtel?" Elena Blinowa, die weiße Bluse hoch zugeknöpft und die Haare straff nach hinten gebunden, blickt missbilligend über den Rand ihrer Brille. "Es sieht vielleicht nicht danach aus", sagt sie streng, "aber hier geht es um die Nahrungsmittelsicherheit für die gesamte Menschheit."

Sie hat Recht, es sieht wirklich nicht danach aus. Genau genommen wirkt der Raum, in dem Blinowa arbeitet, wie ein zum Leben erwecktes Foto aus der Zeit von Marie Curie und Albert Einstein. Bis 1917 war in dem Gebäude die Privatbibliothek des Landwirtschaftsministers des zaristischen Russlands untergebracht, seitdem hat sich nicht viel verändert. Schwere braune Schränke reichen bis an den Stuck der Decke. Es riecht nach altem Holz und muffigem Papier. Ein Gegenstand passt nicht ins Bild. In der Ecke steht ein Computer auf dem Boden. Aber er ist mindestens 15 Jahre alt und fast genauso alt ist die Staubschicht auf der Tastatur.

Hinter einer Glastür klemmt das Bild des Mannes, dem das Institut seinen Namen verdankt: Nikolai Wawilow. Er zog in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts über den Erdball und sammelte Pflanzensamen ein, wo immer er vorbeikam. Knapp 90 Jahre später beherbergt das Wawilow-Institut im Herzen St. Petersburgs die älteste Genbank für Pflanzen weltweit. Eine der größten ist sie auch. Das Institut mag staubig sein, unmodern, und unter dem hinteren Bein von Elena Blinowas Schreibtisch klemmt ein zusammengeknautschtes Stück Pappe, damit er nicht wackelt. Aber es ist so, wie sie gesagt hat: Hier wird sichergestellt, dass die Menschen auch in Zukunft volle Mägen haben.

Hilfe für den Klassenfeind

Heutzutage verlassen sich die meisten Landwirte nur noch auf wenige Sorten Nutzpflanzen. Aber was passiert, wenn eine Weizensorte durch einen neuen Krankheitserreger vernichtet wird? Was ist, wenn die Apfelbäume in Deutschland nicht mehr wachsen wollen, weil der Klimawandel ihnen zu schaffen macht? Nikolai Wawilow hat diese Fragen vorausgesehen und begann zu sammeln und zu bewahren. Zu seiner Zeit war das Wort Biodiversität noch nicht in aller Munde, aber Wawilow war seiner Zeit voraus. Er und seine Nachfolger schufen eine Genbank, aus der Züchter schöpfen können, auf der Suche nach Sorten, die Hitze besser verkraften oder resistent sind gegen bestimmte Krankheiten. Das Wawilow-Institut beherbergt Samen von mehr als 320.000 Pflanzen, darunter allein 1000 Erdbeer- und 600 Apfelsorten. 90 Prozent des Bestandes finden sich in keiner anderen Sammlung auf der Welt.

Aus natur 07/2014

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  • natur 07/2014

    Der Text stammt aus der Juli-Ausgabe von natur, dem Magazin für Natur, Umwelt und nachhaltiges Leben. Er erscheint hier in einer Kooperation. Mehr aktuelle Themen aus dem Heft 07/2014 auf natur.de...

Durch das alte Gemäuer schwirren zahlreiche Geschichten von grünen Rettungsaktionen. Wie sie damals, 1987, als sich Fadenwürmer über große Teile der Sojafelder in den USA hermachten, in St. Petersburg die einzige Sorte mit Resistenzgen fanden und eine Probe über den Atlantik sandten - mitten im Kalten Krieg. Als in Äthiopien in den postkolonialen Wirren die Getreidevorräte vernichtet wurden, schickten sie mehrere Kartons mit nordafrikanischen Getreidesamen. Und als sich 2006 Bauern von der Schwäbischen Alb aufmachten, die verschollene Alblinse wiederzufinden, stießen sie in Russland auf die verlorene Sorte. Wawilow war auch durch Deutschland gestreift.

Die Weltbank hat den Wert der Genbank des Wawilow-Instituts vor einigen Jahren auf acht Billionen Dollar geschätzt. Manche Biologen halten sie für unschätzbar wertvoll. Der russische Staat aber kann mit diesem Reichtum nicht umgehen. Wawilows alte Sammlung wird nur noch durch den guten Willen und die Sturheit einiger alter Wissenschaftler zusammengehalten. Vor Kurzem erst konnten sie den Ausverkauf ihrer wichtigsten Grundstücke im letzten Moment verhindern.

Gen-Datenbank für Pflanzen - Institut Wawilow / Vavilov Research Institute of Plant Industry

90 Prozent des Samenbestands finden sich nur in dem Institut in St. Petersburg.

(Foto: Eric Vazzoler)

Eine Außenstelle des Wawilow-Instituts liegt rund 30 Kilometer südlich der Stadt in Pawlowsk, in jenem Teil also, in dem die Verkäuferinnen in den Geschäften noch einen Rechenschieber zum Kalkulieren des Warenwertes benutzen. Das Institutsgebäude sieht aus wie eine baufällige Kathedrale, der der Glockenturm abhanden gekommen ist. An den Pfosten der Toreinfahrt prangen Hammer und Sichel. In diesem Haus arbeitet ein Teil der Institutswissenschaftler im kalten Windzug der undichten Fenster. Auch sie sortieren Samen. Zum Gebäude gehören mehrere Hundert Hektar Land. Alle paar Jahre müssen bestimmte Pflanzensorten ausgesät werden, um die Keimfähigkeit der Samen zu erhalten. Im Sommer gleicht die Gegend einem Garten Eden, mit Erdbeeren fast so groß wie Tennisbälle. Die staatliche Wohnungsbaustiftung, die das Gelände vor einigen Jahren besichtigte, erkannte hingegen laut einem offiziellen Bericht nur "Gräser und Unkraut". Sie beschloss deshalb kurzerhand, den Garten zu Bauland zu machen.

Kurz nach Weihnachten 2009 übergab das Ministerium für wirtschaftliche Entwicklung ohne Vorwarnung ein Fünftel der Institutsfläche an eine Petersburger Immobiliengesellschaft. Es sah schlecht aus für die Forscher. Innerhalb von drei Monaten sollten sie mit all ihren Erdbeeren, Johannisbeeren und Apfelbäumen umziehen. Dass auf der Wawilow-Versuchsstation auch in diesem Jahr wieder ausgesät wird, ist vor allem einer internationalen Kampagne zu verdanken. Wissenschaftler aus der ganzen Welt schickten Hunderte Protestschreiben an den Kreml, selbst die Vereinten Nationen meldeten sich zu Wort. Das zeigte Wirkung. Im Frühjahr 2012 unterzeichnete Wladimir Putin eine Verordnung, die dem Institut die vollen Rechte an den Grundstücken übertrug.

Forschen für 200 Euro Monatsgehalt

Gen-Datenbank für Pflanzen - Institut Wawilow

Das Außengelände des Instituts wollte der russische Staat schon verscherbeln - die Wissenschaftler wehrten sich

(Foto: Eric Vazzoler)

Zurück in St. Petersburg. Nikolai Zjubenko, Direktor des Wawilow-Instituts, atmet hörbar durch, bevor er sagt: "Niemand hat mehr das Recht, uns dieses Land wegzunehmen." Doch es ist nur ein Etappensieg. Das Institut muss ständig gerettet werden. Zjubenko residiert in einem Raum mit marmornen Wandplatten und Kronleuchtern. Bei jedem Schritt knarren die Dielen. Die Pracht täuscht über den maroden Zustand des 160 Jahre alten Palastes hinweg. Ein japanischer Doktorand weigert sich, den altersschwachen Lift zu benutzen. Zjubenkos Sekretärin hat unter ihrem Schreibtisch einen Heizstrahler versteckt. Den Kamin aus Zarenzeiten darf der Direktor wegen Bestimmungen der Denkmalschutzbehörde nicht anfachen. Jedes Jahr verschlingen Reparaturen einen großen Teil des Budgets. Dabei leidet das Institut laut Zjubenko ohnehin unter einer "systematischen Unterfinanzierung".

Das Wawilow-Institut mit seinen elf Außenstationen und Aussaatfeldern in ganz Russland bekam 2012 über die russische Akademie der Wissenschaften ein Jahresbudget von etwa 4,7 Millionen Euro zugeteilt. Davon müssen auch die 900 Mitarbeiter bezahlt werden. Zwischen 170 und 250 Euro beträgt das Monatsgehalt eines Wissenschaftlers, private Unternehmen bieten das Fünffache. Welch Glück, dass es das Versuchsfeld in Pawlowsk gibt. 40 Hektar sind dort für die Mitarbeiter reserviert. Sie pflanzen Kartoffeln, anderes Gemüse und Obst an. Auf neue Expeditionen gehen sie eigentlich nur noch, wenn ausländische Forschergruppen sie dazu einladen oder internationale Projektstipendien greifbar sind. Um neue Einnahmequellen zu erschließen, vermietet das Institut Räume, neben dem Haupteingang hat sich ein Weinhandel niedergelassen. Das Geld reicht trotzdem nicht einmal dafür, einen Zaun um das Testgelände in Pawlowsk zu bauen. Jeden Herbst kommen die Bürger des Stadtteils, buddeln wertvolle Kartoffeln aus und tragen sie nach Hause.

Boris Makarow ist einer der altgedienten Wawilow-Wissenschaftler. Er arbeitet im Keller des Instituts, wo ein Teil der Samen bei minus zehn Grad Celsius lagert. Vorher werden sie per Röntgenlicht auf Risse untersucht, ein bis zwei Monate getrocknet und dann in Spezialtüten aus Aluminium und Polyethylen gepackt. Makarow hat eine Großvaterstimme und ist ein Herr alter Schule. Er sagt: "Erlauben Sie, dass wir hier kurz stehen bleiben?" Und: "Erlauben Sie, dass ich Ihnen kurz einige Zahlen nenne?" Viele nennt er dann doch nicht. Bevor er die Kältekammer betritt, preist er dafür ausgiebig die russischen Filzstiefel, in die er schlüpft. Neulich habe doch tatsächlich ein Engländer angezweifelt, dass die sogenannten Walenkis das beste Schuhwerk bei Minustemperaturen seien. Makarow fehlen für einen Moment die Worte. Dann stülpt er die Kapuze über und stapft gesenkten Hauptes in die Kältekammer. Fast zärtlich greift er die matt schimmernden Päckchen aus den Regalen, erzählt stolz von Roter Beete und Melonen. Und dann sagt Makarow etwas ähnliches wie die Samen-Sortiererin Elena Blinowa: "Wir dienen der Menschheit." Aber wie lange noch, Boris Makarow? "Ich arbeite, meine Kollegen arbeiten, und so lange es uns gibt, wird es die Sammlung geben."

"Es zählt nur, was ich jetzt sofort für mein Geld bekomme"

In seinem Büro im fünften Stock lehnt sich Direktor Nikolai Zjubenko zurück, verschränkt die Arme hinter dem Kopf und stellt die entscheidende Frage: "Was soll bloß mit dem Institut passieren, wenn unsere Leute, die leidenschaftlichen und verrückten, nicht mehr da sind?" Der Altersdurchschnitt liegt inzwischen bei 55 Jahren, die Jungen nehmen besser bezahlte Stellen an. "Diese Probleme haben wir nicht allein, das betrifft die gesamte Wissenschaft", sagt Nikolai Zjubenko. Mit dem Argument, die Investition werde sich irgendwann in der Zukunft auszahlen, kommt er bei der russischen Regierung nicht weit. "Im heutigen Russland zählt nur, was ich jetzt und sofort für mein Geld bekomme." Wawilow wird zwar in einem Atemzug mit Mendel und Darwin genannt. Aber sein großes Erbe wird mit Füßen getreten.

1916 ging Nikolai Iwanowitsch Wawilow zum ersten Mal auf Expedition. 20 Jahre später hatte er es auf 180 Forschungsreisen in 64 Ländern gebracht. Sie führten ihn durch fünf Kontinente. Das ehemalige Arbeitszimmer Wawilows im Institut ist heute ein kleines Museum. Dort liegen sein Fotoapparat, sein Alpenstock und ein paar Büschel Baumwolle, die er aus Südamerika mitbrachte. In einer Vitrine klebt die letzte Nachricht, die von ihm überliefert ist, notiert während einer Expedition in die Ukraine. Ein kurzer Brief vom 6. August 1940, 23:15 Uhr: "Ein Chauffeur kam ins Basislager und sagte, er solle mich nach Moskau bringen." Wawilow kehrte nie wieder zurück.

Der Botaniker war bei Stalin in Ungnade gefallen. 1929 forderte der Diktator die Erzeugung unverwüstlicher Nutzpflanzen für den neuen sozialistischen Menschen. Während Wawilow darauf beharrte, dass sich die Genetik nicht austricksen lasse, versprach sein Widersacher Trofim Lyssenko, er könne den Weizen in Sibirien durch Erziehung und veränderte Umweltbedingungen zu mehreren Jahresernten treiben. Stalin war begeistert. Wenn es in der Gesellschaft keine angeborenen Klassenunterschiede geben durfte, dann auch nicht in der Biologie. Die Anklagepunkte gegen Wawilow lauteten: Spionage, Sabotage, Volksfeindschaft, Konterrevolution. Mit 55 Jahren starb Wawilow 1943 im Gefängnis an Hunger.

Gen-Datenbank für Pflanzen - Institut Wawilow / Vavilov Research Institute of Plant Industry

Zwischen 170 und 250 Euro verdient ein Wissenschaftler am Wawilow-Institut im Monat

(Foto: Eric Vazzoler)

Seine Mitarbeiter gaben unterdessen ihr Leben, um die Sammlung über den Zweiten Weltkrieg zu retten. Unter deutschem Artilleriebeschuss gruben sie die Kartoffeln aus dem Versuchsfeld von Pawlowsk und retteten so über 6000 Sorten. Wenig später kesselte die Wehrmacht St. Petersburg, das damals noch Leningrad hieß, ein, um die Bevölkerung auszuhungern. Im bitterkalten Winter 1941/42 war das Institut bald das einzige Haus, das mit Essbarem gefüllt war, mit Bohnen, Nüssen, Kartoffeln und Getreide. Damit sich kein hungernder Mitarbeiter bediente, wachten die Forscher stets zu zweit.

Als die Temperatur auf minus 40 Grad fiel, starb zunächst der Leiter der Erdnussabteilung an Auszehrung. Der Kurator der Abteilung für Reis wurde später tot an seinem Schreibtisch gefunden - 1000 Päckchen Reis lagerten im selben Raum. Weitere Mitarbeiter fanden den Tod, doch die Sammlung blieb bis zum Schluss unangetastet, das Institut nahm nach Kriegsende wieder seine Arbeit auf. Der Gründer selbst, der vermeintliche Staatsfeind, wurde in den 50er Jahren posthum rehabilitiert. Jetzt ist das Lebenswerk von Nikolai Wawilow wieder in Gefahr. Kein Krieg bedroht es und kein blindwütiger Diktator. Es sind einfach Vernachlässigung und Ignoranz.

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