Warum stürzte Air France AF447 ab?:In Teufels Küche

Vor drei Jahren verschwand ein Airbus über dem Atlantik. Die Untersuchung des Unfalls hat bis jetzt gedauert, das Ergebnis ist bitter: Vereiste Geschwindigkeitsmesser und verwirrte Piloten rissen 228 Menschen in den Tod.

Patrick Illinger

Sollte es Orte geben auf dieser Erde, die man getrost als Hölle bezeichnen kann, so zählt die Intertropische Konvergenzzone gewiss dazu. Diese nur wenige hundert Kilometer schmale Tiefdruckrinne windet sich entlang dem Äquator einmal um die Erde. Sie markiert die Grenze, an der die Passatströmungen beider Hemisphären aufeinandertreffen.

Warum stürzte Air France AF447 ab?: Entlang dem Äquator, wo die Passatwinde beider Erdhälften aufeinandertreffen, kommt es in großer Höhe zu heftigen Unwettern. Das Wolkenband ist ein Symptom der Intertropischen Konvergenzzone.

Entlang dem Äquator, wo die Passatwinde beider Erdhälften aufeinandertreffen, kommt es in großer Höhe zu heftigen Unwettern. Das Wolkenband ist ein Symptom der Intertropischen Konvergenzzone.

(Foto: Nasa)

Während dieser unter Seeleuten auch Kalmen genannte Gürtel am Boden für Flauten sorgt, türmen sich in höheren Luftschichten ständig gewaltige Gewitterwolken auf. Wie in einer Waschmaschine wälzen sich massive Luftschichten um, die Temperaturen steigen und fallen innerhalb weniger Minuten. Regen, Eis und Schnee sind allgegenwärtig. Die Luft ist von Blitzen aufgeladen, es riecht nach Ozon, der Funkverkehr knistert, und aus Flugzeugrümpfen züngeln blaue Elmsfeuer.

Es ist schon ein Wunder moderner Technik, dass Dutzende Flugzeuge täglich diese Waschküche unbeschädigt durchqueren. So plante es auch ein Airbus A330 der Air France, der sich am Pfingstmontag des Jahres 2009 auf dem Weg von Rio de Janeiro nach Paris machte. Man schrieb den 31. Mai. An Bord des Fluges AF447 waren 216 Passagiere, neun Besatzungsmitglieder und drei Piloten. Es war ein Flug wie viele andere an diesem Tag. Doch dieser sollte der Hölle nicht entkommen.

Der Flug endete als einer der rätselhaftesten Unfälle in der Geschichte der Luftfahrt. Das zunächst spurlose Verschwinden des nur vier Jahre alten Airbus der Air France war so unbegreiflich, dass erst neuneinhalb Stunden nach dem letzten Funkkontakt mit der Maschine ein Suchflugzeug ausrückte. Die Piloten des Fluges AF447 hatte weder einen Notruf abgesetzt, noch gab es andere Hinweise auf eine Katastrophe. Fast wäre es ein Fall für irre Verschwörungstheoretiker geworden, die auch an die Macht des Bermudadreiecks glauben.

Sieben Tage nach dem Verschwinden der Maschine wurden erste Wrackstücke und Leichen gefunden. Die Hauptbestandteile des Airbus sowie der Flugschreiber und der Cockpit-Stimmenrekorder wurden im vergangenen Jahr mit Tauchrobotern vom Meeresgrund geborgen. Mehr als drei Jahre nach dem Unfall hat die französische Flugsicherheitsbehörde BEA nun ihren abschließenden Untersuchungsbericht vorgelegt. Es ist das beklemmende Protokoll einer vermeidbaren Katastrophe, zu der Mensch und Maschine beigetragen haben.

Es gab technische Ausfälle, allen voran vereiste Geschwindigkeitsmesser. Es gab aber auch heillose Verwirrung im Cockpit: einen Kapitän, der sich kurz vor der kritischen Unwetterphase zu einer Ruhepause zurückzog, und einen verunsicherten, 32-jährigen Kopiloten, der nach dem Ausfall der automatischen Steuerung den Airbus mit fatalen Lenkbewegungen in eine instabile Fluglage brachte. Doch der Reihe nach.

Gut drei Stunden nach dem Start in Rio de Janeiro hatte der Airbus den brasilianischen Luftraum verlassen und flog in 35.000 Fuß Höhe in nordnordöstlicher Richtung über dem Atlantik. Im Cockpit saß der 58-jährige Kapitän sowie rechts von ihm ein 32-jähriger Kopilot. Der dritte Pilot hatte Pause.

Der Kapitän begibt sich zur Ruhe

Die aufgezeichneten Gespräche zeigen, dass die vorausliegende Wetterlage dem jüngeren Piloten ganz und gar nicht behagt. Mehrmals spricht der Kopilot die Situation an, kommentiert die hoch liegende Wolkendecke sowie die Signale des bordeigenen Radars. Er schlägt sogar vor, auf eine in der Passagierluftfahrt unübliche Flughöhe von 36.000 Fuß zu steigen. Noch weiter oben konnte die vollbetankte A330 in dieser Phase nicht fliegen.

Doch der Kapitän reagiert kaum. Erste Turbulenzen quittiert er zwar mit einem "uhhh", und auch die Elmsfeuer erwähnt er. Doch insgesamt ist der Routinier so wenig besorgt, dass er kurz vor dem Erreichen der Intertropischen Konvergenzzone beschließt, sich zur vorgesehenen Ruhepause zurückzuziehen. Diese Entscheidung spricht für Gelassenheit und Erfahrung, doch die Bedenken seines jüngeren Kollegen ignoriert er.

Seinen Platz links im Cockpit nimmt nun, dreieinhalb Stunden nach dem Start in Rio, ein weiterer Kopilot ein, der zuvor in der Ruhekabine pausiert hatte. Der 37-Jährige hat sowohl auf Airbus-Langstreckenjets wie auch auf der Südamerika-Line dreimal so viele Flugstunden absolviert wie der Kapitän. Letzterer hatte erst zwei Jahre zuvor seine Zulassung für die A330 erhalten. Doch bei der Übergabe kommt es zu einem weiteren Versäumnis: Der Kapitän bestimmt keine klare Kommandostruktur für die Phase seiner Abwesenheit. Und so bliebt der junge Kopilot auf dem rechten Platz der pilot flying, kurz PF, wie es in der Fliegersprache heißt.

Nur wenige Minuten nachdem der Kapitän sich in das Ruheabteil zurückgezogen hat, verschlechtert sich das Wetter. "Die Intertropische Konvergenzzone", murmelt der Kopilot, "wir sind mitten drin." Der Kabinenbesatzung rät er dazu, sich selbst hinzusetzen. Beide Piloten kommen überein, um zwölf Grad vom Kurs abzuweichen, um den übelsten Wolkentürmen zu entgehen.

Im selben Moment wundert sich der jüngere Pilot über den Geruch im Cockpit und verdächtigt seinen Kollegen, an der Klimaanlage gedreht zu haben. Doch der klärt ihn auf: Der Geruch sei Ozon, wie er nach elektrostatischen Entladungen entsteht. Sogar im Cockpit riecht es nach den heftigen Gewittern des tropischen Atlantiks. Die Temperatur der Außenluft steigt zudem so schnell, dass es im Cockpit plötzlich heißer wird. Auf dem Stimmenrekorder ist auch zu hören, wie Eiskristalle gegen die Frontscheiben des Airbus prasseln.

Wenige Sekunden später erfüllt ein Warnton das Cockpit, und die Maschine kippt leicht nach rechts. Die automatische Steuerung hat sich selbständig abgeschaltet. Der Pilot rechts reagiert, wie es das Lehrbuch vorschreibt. "Ich habe die Kontrolle", ruft er, dem Kollegen signalisierend, wer nun steuert. Gleichzeitig reißt er heftig am Steuerknüppel, der bei Airbus-Flugzeugen ein "Sidestick" ist, ähnlich wie ein Joystick bei Computerspielen.

Beide Piloten erkennen nicht, welche simple Ursache den Ausfall des Autopiloten bewirkt hat: Die aus dem Rumpf ragenden Staudruckrohre der Geschwindigkeitsmesser waren vereist und lieferten sinnlose Werte. Angespannt aufgrund vorangegangener Besorgnis und schon eine Weile von dem Wunsch erfüllt, höher zu steigen, reißt der Kopilot nun am Steuerknüppel herum. Er tut alles, um die Maschine nach oben zu ziehen, "abrupt und exzessiv", wie es im Abschlussbericht des Unfalls heißt.

Das mag in den ersten Sekunden der Überraschung eine natürliche Reaktion sein. Doch selbst als die Warnsysteme aufgrund der steil nach oben gezogenen Nase einen drohenden Strömungsabriss signalisieren, zieht der rechts sitzende Pilot den Steuerknüppel des mehr als 200 Tonnen schweren Airbus weiterhin nach oben. Sein Kollege bemerkt die heftigen Steuerbefehle offenbar nicht. Hier könnte das Cockpitdesign der Airbus-Maschinen eine Rolle spielen. Die Sidesticks eines Airbus bewegen sich unabhängig voneinander. Ein Umstand, den so manche Boeing-Piloten beklagen, wenn sie auf Maschinen der Airbus-Familie umschulen.

Der jüngere Pilot reagiert jedenfalls ähnlich fatal wie ein Autofahrer, der bei plötzlichem Glatteis heftig bremst, Gas gibt oder das Lenkrad herumreißt. Der Anstellwinkel des Airbus wird immer steiler, in weniger als einer Minute erreicht die Maschine eine instabile Fluglage. Die für den Auftrieb verantwortliche Luftströmung an den Tragflächen reißt ab. Aufgrund der kinetischen Energie folgt der Airbus nun den physikalischen Gesetzen eines geworfenen Steins. Er steigt noch auf fast 39.000 Fuß, um dann mit zunehmender Geschwindigkeit zu sinken.

Jedes Verständnis der Situation verloren

Die Piloten haben zu diesem Zeitpunkt jedes Verständnis ihrer Situation verloren. In einem von mehreren Warntönen beschallten Cockpit und umgeben von scheinbar erratischen Instrumentenangaben, verfolgen sie weder die beim Ausfall der Geschwindigkeitsmesser vorgesehene Standardprozedur, noch reagierten sie auf den drohenden Strömungsabriss. Sie wissen schlicht nicht mehr, ob es rauf oder runter geht und was sie glauben sollen.

In diesem Moment setzt auch noch ein berüchtigter aerodynamischer Effekt ein, der in der Fliegerei "Buffet" heißt. Die Turbulenz der abreißenden Luftströmung versetzt hierbei das Flugzeug in heftiges Rütteln. Zusammen mit einer penetranten synthetischen Stimme, die auf den Strömungsabriss hinweist, müsste der Cockpitbesatzung klar werden, dass es um einen Strömungsabriss geht. Die Piloten halten jedoch offenbar auch eine überhöhte Geschwindigkeit für möglich.

Eine Minute und 20 Sekunden nach dem Ausfall des Autopiloten fragt der links sitzende, erfahrenere Pilot: "Verstehst du, was passiert, oder nicht?" Der andere bekennt: "Ich habe keine Kontrolle mehr über das Flugzeug." Die Verwirrung lässt nicht nach, als kurz darauf der Kapitän in das Cockpit zurückkehrt. Auch ihm gelingt es in dem Durcheinander von Warntönen, dem heftig rüttelnden Flugzeug und angesichts zweier von Verzweiflung getriebener Kopiloten nicht zu verstehen, in welcher Lage sich die Maschine befindet.

Die weitere Stimmaufzeichnung zeugt von heilloser Verwirrung, und teils gegenlautenden Ratschlägen aller drei Piloten. Mehrmals verlangt der links sitzende Pilot, die Kontrolle zu bekommen. Das Flugzeug beschreibt unterdessen mit extrem hochgezogener Nase einen langen Dreiviertelkreis, während es sich mit 200 Kilometern pro Stunde unaufhaltsam der Meeresoberfläche nähert.

Die "zunehmend aus dem Gleichgewicht geratene Besatzung" habe vermutlich niemals verstanden, dass sie es mit dem einfachen Verlust von drei Geschwindigkeitsmessern zu tun hatte, beklagt der abschließende Flugunfallbericht. Die Maschine sei im Moment des Aufpralls vollständig - und intakt - gewesen.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: