Warum Brainstorming nicht funktioniert:Windstille im Kopf

Seit etwa 60 Jahren setzen sich Gruppen mit dem Ziel zusammen, einen Sturm der Ideen in den Hirnen der Anwesenden zu entfachen. Fast genauso lange wissen Psychologen: Brainstorming hemmt die Kreativität, statt sie zu stimulieren. Warum bleibt die Methode trotzdem so populär?

Sebastian Herrmann

Manche Gedanken streunen durch die Welt und niemand vermag sie einzufangen. Vor mehr als 60 Jahren ließ Alex Osborn so eine Idee von der Leine - und seitdem hechelt die psychologische Forschung diesem Einfall hinterher. 1948 veröffentlichte der Werber und Journalist aus New York ein Buch, das zum Überraschungsbestseller und zu einer der einflussreichsten Managerfibeln der vergangenen Jahrzehnte wurde. In Kapitel 33 von "Your Creative Power" entwickelte Osborn jenes Konzept, das bis heute unzählige Anhänger und Anwender findet. Um viele und vor allem kreative Ideen zu produzieren, predigte er darin, möge man sich in einer Gruppe zusammensetzen und einen Sturm in den Gehirnen der Anwesenden entfachen: Das Konzept des Brainstormings war geboren.

Es hört sich in der Tat plausibel und sinnvoll an. In der Gruppe befruchten sich die wilden Assoziationen der Teilnehmer, eine Idee kitzelt die andere aus den Köpfen der Kreativen und irgendwann schält sich aus dem wachsenden Wust ungefilterter Gedanken der eine geniale Geistesblitz. So ist es doch, oder nicht? Immerhin beweist Osborns Ideen-Generator täglich weltweit seine Wirkungsmacht. Und fast jeder erinnert sich an ein erfolgreiches Brainstorming, an dem er selbst teilgenommen hat.

Die Sache hat einen Haken: "Seit 50 Jahren belegt die psychologische Forschung, dass Brainstorming nicht besonders gut funktioniert", sagt der Sozialpsychologe Wolfgang Stroebe von der Universität Utrecht, einer der führenden Experten zu dem Thema.

In vielen Studien haben Psychologen gezeigt, dass Gruppen per Brainstorming weniger und auch weniger gute Ideen produzieren als Menschen, die sich auf andere Art oder gar alleine Gedanken machen. Erst kürzlich wiesen Psychologen um Julia Minson von der Universität Pennsylvania in einer Studie über Entscheidungsfindung in der Gruppe wieder darauf hin, dass Brainstorming nur schlecht funktioniert (Psychological Science, online). Doch Osborns Idee lebt weiter. Sie hat sich in den Köpfen als Paradebeispiel für gute Kreativtechniken eingenistet, da können Psychologen noch ein paar hundert Studien publizieren, die das Gegenteil sagen, so scheint es.

Laut Osborn war die Technik des Brainstormings der Schlüssel zum Erfolg der Werbeagentur B.B.D.O., die er gemeinsam mit mehreren Partnern betrieb und die zu der Zeit als eine der innovativsten der Branche galt. Einmal, so berichtete Osborn, hätten zehn Werber binnen 90 Minuten sensationelle 87 Ideen für ein neues Geschäftskonzept entwickelt. Fast eine Idee pro Minute! Was hinter diesem Kreativfeuerwerk steckte? Natürlich Brainstorming, argumentierte Osborn und formulierte die Fundamente der Technik. Zunächst gehe es um die reine Quantität an Ideen - je mehr und je verrückter, desto besser. Wenn die Gruppe ihre vielen Einfälle zu einem großen Berg getürmt habe, finde sich darin mit sehr großer Wahrscheinlichkeit ein kreativer Edelstein.

80 Prozent glauben an das Brainstorming

Osborns wichtigste Regel war: "Keine Kritik!" Negatives Feedback verhindere, dass sich die scheue Blüte der Kreativität entfalte, formulierte er blumig. Jeder in der Gruppe solle ohne Angst vor Spott selbst den größten Unsinn sagen dürfen, Hauptsache, die Kreativität werde entfesselt.

Brainstorming setzte sich durch, die Kreativtechnik fand Anhänger und Anwender - bis heute. "Etwa 80 Prozent der Menschen glauben daran, dass sie in Gruppen mehr und auch kreativere Ideen produzieren, als wenn sie alleine arbeiten", schreiben Psychologen um Stroebe und Bernard Nijstad von der Universität Groningen in einer Übersichtsarbeit im Fachblatt Advances of Experimental Social Psychology.

Dabei geht der erste akademische Schuss gegen das Brainstorming auf das Jahr 1958 zurück. Psychologen der Universität Yale ließen damals 48 Probanden in Vierergruppen verschiedene Aufgaben nach den Regeln des Brainstormings lösen. Die Kontrollgruppe bestand aus ebenso vielen Teilnehmern - mit dem Unterschied, dass sich alle 48 Probanden alleine und ohne Kommunikation mit anderen Teilnehmern der Lösung der gestellten Aufgaben widmen mussten. Das Ergebnis der Studie war eine Ohrfeige für Osborn und seine Kreativtechnik. Die Einzelkämpfer präsentierten etwa doppelt so viele Ideen wie die Brainstormer - und eine unabhängige Jury bewertete diese Ideen im Schnitt auch noch als praktikabler und besser. "Gruppen sind häufig nicht in der Lage, die wirklich guten Ideen zu erkennen", sagt Stroebe.

Hemmungen als Hemmschuh?

Diesem ersten Schuss folgten weitere Salven. So wertete der britische Sozialpsychologe Brian Mullen zusammen mit Kollegen 1991 für eine Metaanalyse 20 Studien zum Brainstorming aus. Dabei ergab sich ein eindeutiges Bild: Nominale Gruppen - das sind Gruppen, in denen die Teilnehmer jeweils für sich arbeiten müssen - produzierten durchwegs mehr Ideen und vor allem mehr gute Einfälle als Gruppen, die nach den Prinzipien von Alex Osborn vorgingen. Außerdem zeigte sich, dass dieser Qualitäts- und Quantitätsverlust mit der Zahl der Mitglieder einer Gruppe zunimmt. Seitdem ist die Fülle der relevanten Studien über das Brainstorming weiter gewachsen - und das Ergebnis ist das gleiche geblieben. Brainstorming bringt nichts. Punkt.

Nur: warum? Anfangs vermuteten viele Wissenschaftler, dass Trittbrettfahrer in den Gruppen - Teilnehmer, die selbst nichts beitragen - der destruktive Faktor sein könnten. Im Verdacht stand auch, dass manche Gruppenmitglieder gehemmt seien, weil sich andere Diskutanten zu sehr in den Vordergrund drängten. Doch zum Erstaunen vieler Psychologen entpuppten sich diese Faktoren als wenig relevant. Der entscheidende Grund für die vergleichsweise schlechten Ergebnisse der Brainstorming-Gruppen klingt banaler: Die Gruppenmitglieder blockieren sich gegenseitig. "Diese Blockierung ist eine Folge der Konvention, dass in Gruppen zu jedem Zeitpunkt jeweils nur ein Mitglied das Wort ergreifen kann", schreiben Stroebe und Nijstad in einem Beitrag für das Fachblatt Psychologische Rundschau.

Vielleicht wäre Brainwriting die bessere Methode

Den eigentlich hemmenden Effekt nennen Psychologen "kognitive Restriktion". In die Sprache des Alltags übersetzt bedeutet das: Wenn gerade jemand spricht, müssen sich die anderen Teilnehmer des Brainstormings darauf konzentrieren, ihre eigene Idee nicht zu vergessen. Und während sie sitzen und auf die Gesprächspause warten, in der sie endlich etwas sagen dürfen, nehmen sie wenig von dem auf, was die anderen beitragen. Forscher wie Stroebe empfehlen deshalb eine modifizierte Version des Brainstormings, zum Beispiel ein "Brainwriting". Hierbei schreibt jeder seine Ideen zum Beispiel in vernetzten Computern auf und macht sie den übrigen Teilnehmern zugänglich. So entstehen keine Pausen, und die Ideen befeuern sich dennoch gegenseitig.

Die Illusion vom fruchtbaren Brainstorming nach dem Rezept Alex Osborns wird sich wohl dennoch halten. Zum einen herrscht in der Regel eine positive Erwartungshaltung gegenüber Gruppenarbeit, die sich in der Wahrnehmung vieler selbst erfüllt. "Und viele Menschen überschätzen einfach den Anteil ihrer eigenen Ideen an dem Resultat einer Gruppe", sagt der Psychologe Stefan Schulz-Hardt von der Universität Göttingen, der Gruppenprozesse erforscht. Das liege daran, dass jeder ein positives Selbstbild aufrechterhalten möchte. Zum anderen dauere ein Brainstorming in der Regel eine Weile und dabei verwische einiges in der Erinnerung. "Während der Diskussion denkt man sich bei Ideen anderer öfter, dass man da auch selber hätte draufkommen können", sagt Schulz-Hardt, "und rückblickend ist man dann der Meinung, man habe tatsächlich selbst diese Einfälle gehabt."

Wohlfühlfaktor Gruppe

Menschen fühlen sich in Gruppen wohl - und dieses Gefühl übertragen sie auf die Arbeit einer Gemeinschaft: "Weil ich mich in der Gruppe gut gefühlt habe, fühlt sich auch das Ergebnis gut an", sagt Schulz-Hardt, "man kann die soziale Ebene und die Leistungsebene nicht mehr auseinanderhalten." Auch Stroebe hat festgestellt, dass ein Brainstorming dem sozialen Klima einer Gruppe guttut - außer in der Gruppe entsteht ein Konflikt über Ideen, was Unzufriedenheit unter den Brainstormern schürt.

Schließlich gilt doch das Osborn-Dogma: "Keine Kritik!" In der reinen Ideenfindungsphase sei das wahrscheinlich förderlich, sagt Schulz-Hardt. "Aber irgendwann müssen die Ideen ausgesiebt und bewertet werden - das geht nicht ohne Kritik." Eine Meinungsverschiedenheit habe also sogar positive Effekte für die Lösungsfindung.

Irgendwie ist das eine komische Sache mit diesem Brainstorming: Die Technik funktioniert nicht besonders gut, trotzdem lieben die Menschen sie. Und vor dem, was tatsächlich wirken würde - individuelle Arbeit sowie Kritik - scheuen sie zurück.

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