Orcas sind bekannt dafür, merkwürdige Dinge zu tun. Doch was Deborah Giles von der US-Tierschutzorganisation Wild Orca beobachtet hat, dürfte eine der seltsamsten Verhaltensweisen sein, die bei Schwertwalen je beschrieben wurde. Im südlichen Puget Sound vor der Westküste der USA schwamm ein Wal mit Hut. Genauer: Das Tier hatte sich einen Lachs auf den Kopf gelegt und trug den toten Fisch mit sich herum.
Jetzt rätseln Biologinnen und Biologen, warum. Und warum gerade jetzt. „Das Verhalten wurde in den 1980er-Jahren schon einmal beobachtet, verschwand dann aber nach einigen Wochen wieder“, sagt Tamara Narganes Homfeldt von der Organisation Whale and Dolphin Conservation (WDC).
Deborah Giles vermutet, dass der Fischhut bei den Orcas immer dann in Mode kommt, wenn es Nahrung im Überfluss gibt, sodass die Wale nicht alles fressen, was sie fangen. Und dass sie dann überschüssigen Fisch als Vorrat auf ihrem Kopf lagern, falls sie später wieder Hunger bekommen. Für diese Theorie spricht, dass im südlichen Puget Sound tatsächlich Unmengen von Lachsen schwammen, als Giles den Wal mit Hut beobachtet hat. Außerdem sei schon länger bekannt, dass Orcas manchmal Teile ihrer Beute mit sich herumtragen, allerdings indem sie sie unter ihre Rückenflosse klemmen, wird Giles im Wissenschaftsmagazin New Scientist zitiert. Gegen diese Theorie spricht, dass noch nie ein Orca beim Verspeisen seines Lachshutes beobachtet wurde. Giles will jetzt versuchen, mithilfe von Kamera-Drohnen einen solchen Moment einzufangen.
Schwertwale sprechen verschiedene Sprachen
Tamara Narganes Homfeldt hält es für wahrscheinlich, dass das Fischhut-Tragen Ausdruck einer tierischen Kultur ist, die speziell die Orca-Population vor der Westküste der Vereinigten Staaten und Kanadas entwickelt hat. „Es ist dieselbe Population, bei der das Verhalten in den 1980er-Jahren beobachtet wurde“, sagt sie. „Die Southern Resident Orcas“.
Schon länger ist bekannt, dass Orcas zu denjenigen Tieren gehören, die Kulturen pflegen – eine Fähigkeit, von der man lange Zeit dachte, dass nur Menschen sie haben. Zwar besuchen Orcas keine Konzerte und lesen auch keine Bücher. Wenn Biologinnen und Biologen von tierischer Kultur sprechen, fassen sie den Begriff weiter: Sie verstehen darunter Verhaltensweisen, die Mitglieder einer Gemeinschaft pflegen, und die sie von Artgenossen in anderen Gruppen unterscheidet. Ein weiteres Merkmal tierischer Kultur ist, dass sie zwischen den Gruppenmitgliedern durch soziales Lernen weitergegeben wird. Individuen, die ein bestimmtes Verhalten nicht beherrschen, ahmen ein anderes Tier nach, bis sie es ebenfalls können. „Orcas sind bekannt für soziales Lernen“, sagt Tamara Narganes Homfeldt. Schwertwale hätten ein großes Gehirn und seien extrem intelligent und sozial.
„Es gibt viele Beispiele von Kultur bei Orcas“, sagt Narganes Homfeldt. Zum Beispiel habe jede Population ihre eigene Sprache: spezielle Rufe, die sie von anderen Orca-Populationen unterscheiden. Auch bei der Jagd haben verschiedene Orca-Gemeinschaften unterschiedliche Strategien entwickelt. Schwertwale in der Antarktis machen etwa gemeinsam Jagd auf Robben, die auf Eisschollen liegen. Sie erzeugen auf einer Seite der Scholle eine Welle, damit die Eisscholle wackelt. Wenn die Beute dann auf der anderen Seite herunterrutscht, warten dort andere Gruppenmitglieder.
Orcas vor der Küste Patagoniens haben eine ganz andere Jagdkultur: Sie erbeuten Robben am Strand, indem sie sich absichtlich stranden lassen und ihre Beute dann in tieferes Wasser ziehen. „Diese Kultur muss sehr aktiv gelehrt werden“, sagt Narganes Homfeldt. Tiere, die die Technik nicht perfekt beherrschen, schaffen es nicht zurück ins Wasser und verenden. Allen Orca-Populationen gemeinsam ist, dass die Beute unter den Gruppenmitgliedern aufgeteilt wird, wobei die Schwertwale meistens nur bestimmte Körperteile fressen und den Rest anderen Arten überlassen, etwa Seevögeln.
Ob sich die Fischhut-Kultur bei den Southern Resident Orcas erneut etabliert, muss sich zeigen. „Bis jetzt wurde nur ein einziger Fall beobachtet“, sagt Narganes Homfeldt. „Was aber nicht heißt, dass es nur einmal passiert ist.“ Vor 40 Jahren hatte sich das Verhalten in der ganzen Population ausgebreitet. Die Meeresbiologin hält es für wahrscheinlich, dass ein Tier, das den Fischhut-Trend in den 1980er-Jahren erlebt hat, die Mode jetzt wieder aufgegriffen hat. Schließlich werden Orca-Bullen bis zu 60 Jahre alt, Orca-Kühe manchmal sogar 80 bis 90 Jahre. Wie Giles vermutet auch Narganes Homfeldt, dass das Verhalten mit einem Überangebot von Nahrung zusammenhängt. Doch ob der Sinn wirklich ist, Nahrung für schlechtere Zeiten zu lagern? Möglicherweise haben die hochintelligenten Tiere auch ein ganz anderes Motiv: einfach nur spielen und ein bisschen Spaß haben.