Eine Stampfrakete funktioniert nach einem einfachen Prinzip: Tritt man auf ein Luftkissen, schießt die Luft durch einen Schlauch, an dessen Ende eine Rakete aufsitzt. Diese wird von der Druckwelle in die Höhe geschossen. Das Prinzip dieses Kinderspielzeugs lässt sich auch auf Vulkane übertragen, zum Beispiel auf den Kilauea im Südosten der größten Insel Hawaiis.
Eigentlich gilt der Schildvulkan als Touristenattraktion. Er gehört zu den aktivsten Vulkanen der Welt, aber seine Lava fließt meist ganz gemächlich aus. Deswegen und wegen seiner guten Zugänglichkeit wird er schon mal als „der einzige Drive-in-Vulkan der Welt“ bezeichnet.
Doch im Mai 2018 zeigte der Kilauea ein anderes Gesicht: Nach fast hundert Jahren kam es wieder zu einem größeren explosiven Eruptionsereignis – sogar zu einer ganzen Serie: Aschewolken türmten sich bis zu acht Kilometer auf, verwehten und ließ einen Ascheregen auf Siedlungen nieder; Lavafontänen schossen bis zu 90 Meter hoch in den Himmel und Lavabomben schlugen in der Umgebung ein – begleitet von den stärksten Erdbeben seit fast 50 Jahren.

Außerdem rissen zwei Dutzend Spalten an der östlichen Bruchzone des Vulkans auf, aus denen große Mengen Lava sprudelten, sich über Straßen und Häuser wälzten und schließlich dampfend in den Ozean mündeten. 2000 Menschen mussten in Sicherheit gebracht werden. Kein Vulkan in den USA hatte seit dem Ausbruch des Mount St. Helen im Jahr 1980 mehr Zerstörung angerichtet.
Eingang in die Lehrbücher dürfte der Ausbruch allerdings aus einem anderen Grund finden: Er passte einfach nicht ins Muster der bekannten explosiven Eruptionen. Zu diesen kommt es entweder, weil geschmolzenes Magma aufsteigt, oder weil Grundwasser explosionsartig verdampft und dabei Krustengestein zertrümmert. So ist die bisherige Lehrmeinung. Beides kann allerdings nicht den Ausbruch des Kīlauea im Jahr 2018 erklären. Im Material, das der Vulkan ausspie, war kaum frisches Magma enthalten. Und das Gestein rund um den Schlot war Simulationen zufolge zu heiß, um Grundwasser eindringen zu lassen.
Geowissenschaftlerinnen und Geowissenschaftler aus den USA und China haben nun im Fachblatt Nature Geoscience eine dritte Kategorie von explosiven Eruptionen modelliert: den „Stampfraketenmechanismus“. Demzufolge leerte sich ein bis zu zwei Kilometer tiefes Magmenreservoir und Lava trat in 40 Kilometer Entfernung an der östlichen Bruchzone des Vulkans aus. Daraufhin sackte das kilometerdicke Dach des Vulkans über Monate hinweg bis zu einen halben Kilometer ab, und der Krater vergrößerte sich um das Siebenfache.
Aber bereits zu Beginn dieses Prozesses im Mai erzeugte der stufenweise Kollaps der Caldera solch einen Druck auf das verbliebene Magmenreservoir und die darüberliegende Gasblase, dass die magmatischen Gase explosionsartig einen Schlot im Krater des Kilauea hochschossen und dabei Felsgestein mit sich rissen. Das dauerte weniger als eine halbe Minute pro Eruptionsereignis. Der Vergleich mit der Stampfrakete sei „eine nützliche Analogie, um zu erklären, wie die aschereichen Explosionen während des Ausbruchs im Jahr 2018 erzeugt wurden“, sagt der Seismologe David Shelly von der US-Geologiebehörde USGS, der nicht an der Studie beteiligt war.
Den Einsturz des Vulkans und die Eruptionsereignisse konnten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler so detailliert vermessen wie nie zuvor. Möglich machte das die Zugänglichkeit und das Netzwerk an Instrumenten. Dank der ein Dutzend Eruptionsereignisse konnten die Forschenden große Mengen an Radar-, Infraschall- und seismischer Daten sammeln und damit den Aufstieg des Kohlendioxids und Wasserdampfs samt dem mitgerissenen Basaltgestein simulieren. „Das war das erste Mal, dass solch ein raketenähnlicher Antriebsmechanismus für einen Ausbruch untersucht wurde“, sagt der Hauptautor Josh Crozier von der Kalifornischen Vulkanologischen Station der US-Geologiebehörde USGS.

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Crozier und seine Kolleginnen und Kollegen nehmen an, dass dieser Ausbruchsmechanismus gar nicht so selten ist; nur sei er eben bislang nicht als solcher entdeckt worden. Kandidaten seien frühere explosive Ausbrüche wie der des Pinatubos 1991 auf den Philippinen, dessen Gipfel während des Ausbruchs um mehr als 250 Meter einstürzte, woraufhin sich zwei Calderen bildeten. Oder der des Kilaueas im Jahr 1924. „Ausbrüche von kollabierenden Vulkanen kommen relativ häufig vor“, sagt Geologe Crozier. „Wir wissen jetzt, dass sie direkt zu explosiven Eruptionen führen können.“
Der Geologe Christoph Helo von der Johannes-Gutenberg Universität Mainz bezeichnet die Studie als „sehr interessant“. „Damit lassen sich grundsätzliche Gefahrenpotenziale von explosiven Vulkanausbrüchen besser verstehen“, sagt er. „Und das ist eine Voraussetzung, um in Zukunft bessere Vorhersagen und Vorwarnungen treffen zu können.“ Josh Crozier empfiehlt schon mal, bei einem drohenden Calderenkollaps in Zukunft immer auch an eine Stampfrakete zu denken.