Vorurteilsforschung:Warum Vorurteile in der Kindheit normal sind

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Obwohl die methodischen Mängel seit Jahren bekannt sind, ist der IAT in der Stereotypen-Forschung weit verbreitet. "In einer großen Stichprobe sind mit dem IAT gewiss Vorhersagen über Vorurteile möglich", sagt Malte Friese. Das legten einzelne Studien nahe. Für eine einzelne Person sei eine Vorhersage aber nicht seriös möglich. "Für diagnostische Zwecke ist das unverantwortlich, da kommt man in Teufels Küche", warnt Fiedler. Genau das haben jedoch einzelne Anwendungen im Sinn: In den USA nutzten Arbeitgeber schon seit Jahren IATs, berichtet Fiedler, um vermeintlich sexistische Bewerber auszusortieren.

So einfach ist es also nicht, Vorurteile zu messen. Vielleicht stellen Psychologen aber auch einfach die falsche Frage. Die könnte auch lauten: Wie lassen sich starke Vorurteile ganz verhindern?

Dazu muss man wissen, dass Vorurteile völlig normal sind. Ohne Schubladendenken könnte der Mensch gar nicht reifen. "Schon mit drei oder vier Jahren lernen Kinder, zwischen Jungen und Mädchen zu unterscheiden und das eigene Geschlecht ein Stück weit zu bevorzugen", sagt der Psychologe Andreas Beelmann von der Universität Jena. Mädchen können nicht so gut Fußball spielen aber besser tanzen, und von Autos haben sie eh keine Ahnung. Solche frühen Stereotype seien wichtig, um "die Vielfalt der Informationen über die soziale Umwelt übersichtlicher zu gestalten", sagt Beelmann. Und die Abgrenzung zu anderen diene dazu, eine eigene Identität aufzubauen. Im Alter zwischen fünf bis sieben Jahren wachsen Vorurteile weiter. Erst in der Schule lernen die meisten Kinder zu differenzieren und in mehreren Kategorien zu denken. Ein Mädchen kann dann auch eine gute Fußballerin sein, ein ausländischer Mitschüler wird nicht mehr nur über seine Nationalität wahrgenommen. Viele der anfänglichen Stereotype bröckeln.

Fehlt das Fremde, setzen sich Stereotype fest

Problematisch wird es, wenn dieser Entwicklungsschritt ausfällt oder hintertrieben wird. "Viele Kinder von Israelis und Palästinensern bekommen ständig bestimmte negative Stereotype von außen mitgeteilt", sagt Beelmann. Da sei es "nachgerade ein Wunder, wenn jemand ohne Vorurteile aufwächst". Oder es fehlt schlicht der Kontakt zu anderen sozialen Gruppen. Dann bleiben die Vorurteile bestehen oder steigern sich zu extremen Einstellungen. Das könnte erklären, warum rechtsextreme Einstellungen besonders dort verbreitet sind, wo der Ausländeranteil am niedrigsten ist.

Genau in diesem für Toleranz wichtigen Alter von sieben bis zehn Jahren setzt daher ein Präventionsprogramm in Thüringen an, das Beelmanns Arbeitsgruppe mitentwickelt hat - eines der größten in Deutschland. Die Wissenschaftler gehen in Klassenzimmer und üben mit den Kindern, sich in die Situation von Einwandererkindern zu versetzen. Oder sie bringen die Kinder von Migranten gleich mit an die Schulen. "In Thüringen hatten wir das Problem, dass es nur sehr wenige Migrantenfamilien gibt", sagt Beelmann. Daher dachten sich die Psychologen teilweise Abenteuer aus, die Kinder fremder Herkunft erleben, und diskutierten sie mit den Schülern.

Die Psychologen konnten zeigen, dass das kulturelle Wissen der Kinder im Vergleich zu einer Kontrollgruppe deutlich stieg, die Vorurteile gegenüber Kindern anderer Ethnien sanken. Das Projekt läuft seit acht Jahren, die ersten Kinder aus der Studie sind etwa 15. Erste Ergebnisse aus einer Nachfolgeerhebung machen die Jenaer Wissenschaftler optimistisch: Zwischen Jugendlichen, bei denen die Psychologen interveniert haben und anderen 15-Jährigen ließen sich jetzt noch Unterschiede ausmachen, so Beelmann: "Sie haben insgesamt tolerantere Einstellungen, treten häufiger mit anderen Ethnien in Kontakt und sind rechten Gruppen weniger zugeneigt."

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