Paläogenetik:Auf den Spuren der ersten Amerikaner

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Vom Pelzjäger in Sibirien zum weltweit anerkannten Experten für alte DNA: Der Däne Eske Willerslev verfolgt die genetischen Spuren der ersten Besiedler Amerikas.

Porträt von Astrid Viciano

Nur nicht einschlafen, bloß nicht wegdösen, das würde seinen Tod bedeuten. Nicht einmal eine Minute durfte er die Augen schließen, sonst würde er erfrieren, das wusste der spätere Biologe Eske Willerslev in jener Nacht, in den Wäldern Jakutiens, wo er von 1993 bis 1994 als Trapper lebte.

Er hatte Elche gejagt, den Weg zurück ins Lager nicht rechtzeitig vor Einbruch der Dunkelheit gefunden. Was tun, fragte er sich, hatte Holz gesammelt, viel zu wenig, ein Feuer entfacht, gewartet. Sein Körper hörte auf zu zittern, eine merkwürdige Hitze durchströmte ihn. Dann, plötzlich, hörte er sie heulen. Wölfe.

Eske Willerslev überlebte die Nacht; doch seine romantische Vision von einem einsamen Dasein als Pelzjäger war für immer zerstört. "Ich wusste nicht mehr, was ich mit meinem Leben anfangen sollte", sagt der heute 48-Jährige. Zurück in seiner Heimat Dänemark schlief er auf dem harten Fußboden, stellte die Heizung aus und haderte mit seinem Biologie-Studium, nicht ahnend, dass er sich schon bald zu einem der führenden Paläogenetiker weltweit entwickeln würde, zu einem der wichtigsten Experten für alte DNA.

Der Forscher redet, als säße er an einem Lagerfeuer

Als erstem Wissenschaftler überhaupt gelang es ihm im Jahr 2010, das uralte Erbgut eines längst verstorbenen Menschen zu sequenzieren, ein 4000 Jahre altes Genom aus Grönland. Heute leitet der 48-Jährige das Center for Geo-Genetics an der Universität Kopenhagen.

Mithilfe von Erbgutanalysen zeichnet er die Wege der Menschheit in den vergangenen 50 000 Jahren nach. "Erst wenn wir wissen, woher wir kommen, können wir verstehen, wer wir heute sind", sagt Willerslev. Die Europäer zum Beispiel, die Australier, die Asiaten. Besonders interessiert ihn, woher die Ureinwohner Amerika stammen. Nach ihren Spuren sucht er immer wieder in Sibirien.

Aus seiner Zeit als Pelzjäger hat er unter anderem einen Mammutknochen mitgebracht; das Mitbringsel lehnt in Willerslevs Büro so selbstverständlich in einer Ecke, als wäre es ein Regenschirm. Der Biologe deutet auf kleine Löcher, die er in den Knochen gebohrt hat. Dort hat er Proben entnommen, um darin nach altem Erbgut zu suchen.

Ihn interessiert auch, wann welche Tiere und Pflanzen in verschiedenen Regionen der Erde vorkamen. "Früher habe ich in meinen Expeditionen nach Sibirien fremde Regionen erkundet. Inzwischen weiß ich, dass ich auch als Genetiker auf der ganzen Welt Entdeckungen machen kann", sagt Willerslev. Mit seiner dunkelblauen Fleecejacke, dem schlichten rosa T-Shirt darunter und Jeans sieht er heute noch aus, als würde er lieber wandern gehen, statt auf einem Holzstuhl in seinem kargen Büro zu hocken.

Tatsächlich redet er auch ein wenig, als säße er an einem Lagerfeuer, während er vom Ursprung seiner Forschungsinteressen spricht. Er erzählt zunächst wieder von jener eiskalten Nacht im Wald, schließlich von einem Felljäger, der einmal in die Eisdecke eines Sees einbrach und den er mit dem Schaft seines Gewehrs aus dem Wasser ziehen musste.

Und immer wieder berichtet er von den uralten Knochen der Mammuts oder Bisons, die von den Flüssen Sibiriens an die Ufer gespült werden wie Muscheln an einen Strand.

Im versteinerten Kot fand sich 14 000 Jahre alte DNA

Vor etwa 13 000 Jahren, zum Ende der letzten Eiszeit, entstand dort eine Landbrücke, die nach Alaska führte. Der Genetiker redet laut, mit tiefer Stimme, zeichnet mit der Hand den Korridor nach, dem schon bald die ersten Menschen folgten, um den amerikanischen Kontinent zu besiedeln. Lange Zeit dachten Archäologen, dass diese nach dem Fundort Clovis in New Mexico benannten Menschen die Ureinwohner Amerikas waren.

Warum das nicht sein kann, will Willerslev anhand von, nun ja, Exkrementen erklären. Aus den Paisley-Höhlen im US-Bundesstaat Oregon hatte der Genetiker versteinerten Kot mitgenommen und darin menschliche DNA gefunden, die älter als 14 000 Jahre ist. Und in Chile hatte ein US-amerikanischer Archäologe bereits in den 1970er-Jahren ähnlich alte Überreste gefunden, was von der Forschung jedoch weitgehend ignoriert wurde.

Waren die Menschen vielleicht früher als gedacht über die Landbrücke gewandert? Das bezweifelt Willerslev. "Dort gab es noch nichts zu essen", sagt er. Selbst wenn der Korridor sich bereits früher geöffnet hätte, wie hätten die Einwanderer die Strecke des 1500 Kilometer langen Korridors ohne Nahrung überwinden sollen? Erst in 12 400 Jahre alten Proben fand Willerslev dann DNA-Spuren von Mammuts und Bisons.

Die ersten Einwanderer müssen also einen anderen Weg genommen haben. Welcher das war, kann bislang niemand sagen. Sie könnten über die Küsten gekommen sein. Oder mit Booten über das Wasser. "Wir haben die Sicht auf die Besiedlung Amerikas grundlegend verändert, das ist sehr aufregend", sagt David Meltzer, Anthropologe an der Southern Methodist University in Dallas, der seit Jahren mit Willerslev zusammenarbeitet.

Nachdenklich wiegt er einen Schädel in seinen Händen

Die alten Überreste stammen unter anderem aus der Knochensammlung des Zoologischen Museums in Kopenhagen. Dort läuft Willerslev an einer Reihe grauer Metallschränke vorbei, in denen die Kuratoren alte und neue Knochen abgelegt haben wie Bücher in einer Bibliothek.

Daneben schwingen sich die Stoßzähne eines Mammuts vom Boden empor, auch das Skelett eines Riesenhirsches reckt seinen Hals in die Luft. Vor einem Holzschrank bleibt Willerslev stehen, ein Kollege zieht eine Schublade mit mehreren Kartons heraus. Darin liegen menschliche Schädel, einen davon reicht er dem Genetiker.

Nachdenklich wiegt der Forscher das schwere, dunkle Exemplar in seinen Händen. Diese Knochen geben ihm und seinen Kollegen noch Rätsel auf. Sie stammen aus Lagoa Santa in Brasilien, sind mindestens 10 400 Jahre alt und enthalten genetische Spuren von Menschen aus Australien und Papua-Neuguinea. Bereits im Jahr 2015 hatten die Forscher die gleichen Gensequenzen bei heutigen Indianerstämmen des Amazonas entdeckt.

Doch konnten sie diese Spuren in keinem einzigen anderen Fund Amerikas nachweisen. Wie aber kann das sein, dass diese Menschen von Alaska nach Brasilien einwanderten, ohne in Nordamerika genetisch oder archäologisch Spuren zu hinterlassen?

Wie überquerten sie die Anden und den Amazonas? "Wir haben keine Ahnung", sagt Willerslev, gibt den Schädel an seinen Kollegen zurück und verharrt kurz bei einem ausgestopften Wolf, weiß wie Schnee, der mit toten Augen aus einer Glasvitrine starrt.

Stammen die Ureinwohner Amerikas aus Südeuropa?

Im Schnee Sibiriens wollte sich Willerslev einst auf ein Leben in der Wildnis vorbereiten. Seine Familie verbrachte die Sommerferien stets in den Wäldern Schwedens, dort fuhr er mit seinem Zwillingsbruder Kanu und schoss mit Luftpistolen auf Vögel.

Im Alter von 13 Jahren wanderten die Brüder zwei Wochen durch Lappland, ganz allein. "Das war für mich eine wichtige Erfahrung. Zum ersten Mal brachte ich etwas zu Ende, was ich mir vorgenommen hatte", sagt Willerslev heute.

Er hasste die Schule mit all ihren Regeln, hatte furchtbar schlechte Noten und träumte im Unterricht davon, als Indianer auf einem Pferd durch die Prärie zu galoppieren. Kein Wunder also, dass er sich für die Besiedlung Amerikas besonders interessiert. "Das ist für mich eine Herzensangelegenheit", sagt Willerslev.

Daher zögerte er nicht lange, als er im Jahr 2011 von einem 12 700 Jahre alten Kinderskelett hörte, das bereits vor mehr als 40 Jahren auf einer Ranch in Montana entdeckt worden war. Es war das bislang älteste Skelett der besagten Clovis-Kultur, deren Vertreter über die Landbrücke zwischen Sibirien und Alaska eingewandert waren.

Willerslev konnte mit seinen Genanalysen nachweisen, dass das sogenannte Anzick-Kind ein Vorfahr vieler heutiger Indianerstämme ist. Was nicht überraschend klingt, wurde unter Archäologen und Anthropologen heftig diskutiert. Viele von ihnen hingen der Hypothese an, dass die Clovis-Siedler nicht aus Sibirien, sondern aus Südeuropa stammten.

Die Vorfahren der heutigen Indianer sollen demnach erst später in Amerika eingewandert sein. "Wir haben aber nicht die Spur eines Europäers im Erbgut des Kindes gefunden", sagt Willerslev. Warum das so brisant ist, will der sonst so redselige Genetiker lieber nicht erklären. Er stockt, wählt seine Worte mit Bedacht, verstummt schließlich.

Seit 1990 ist es in den USA gesetzlich vorgeschrieben, dass Wissenschaftler und Museen die Gebeine und Grabbeigaben indigener Völker an deren Nachfahren zurückgeben müssen, damit diese sie nach ihrer Tradition bestatten können. Wäre das Anzick-Kind aber ein Europäer gewesen, hätten die Forscher die Knochen behalten können.

So aber gehörten die Überreste den Indianern, und Willerslev beschloss, sich auf eine ungewöhnliche Reise zu begeben. Er traf Vertreter verschiedener Indianerstämme aus der Nähe des Fundorts, um ihnen von seinen Studienergebnissen zu berichten. "Das war sehr wichtig, um Vertrauen zu schaffen", sagt der Historiker Shane Doyle von der Montana State University, der selbst dem Stamm der Crow-Indianer angehört und Willerslev einen "Bruder" nennt.

Früher mangelte es an Respekt vor den Ahnen der Indianer

Der schmale Indianer mit langen, geflochtenen Haaren begleitete Willerslev auf seiner Reise und einem Treffen mit drei Angehörigen des Stamms der Schwarzfuß-Indianer im Center for GeoGenetics in Montana. Willerslev hört zwei Stunden konzentriert zu, als seine Gäste davon berichten, wie Wissenschaftler in der Vergangenheit ohne Erlaubnis und oft ohne Respekt die Knochen ihrer Vorfahren untersucht haben.

"Das hat uns sehr geschadet", sagt Skye Gilham, forensische Anthropologin am College der Schwarzfuß-Indianer in Montana und selbst Angehörige des Stamms.

Daher sitzt Gilham inzwischen in einem Gremium, das darüber entscheidet, ob und wie wissenschaftliche Studien an Vertretern ihres Stamms durchgeführt werden dürfen. Die Forschung soll den Indianern dienen, zum Beispiel herausfinden, warum so viele von ihnen an Typ-2-Diabetes leiden. Ihre Großmutter ist im Frühjahr daran gestorben, ihre Mutter und ihr Vater leiden daran. Auch deshalb ist Gilham nach Kopenhagen gereist.

Willerslev möchte sich nämlich jene Genvarianten ansehen, die Schwarzfuß-Indianer so anfällig für die Erkrankung machen. Auch um psychische Krankheiten soll es gehen, offensichtlich ist die Suizidrate unter den Indianern besonders hoch.

Ein ähnliches Projekt läuft derzeit in Europa an. Mehr als 5000 Genome, zwischen 10 000 und 1800 Jahre alt, möchte Willerslev sequenzieren, von Fundorten aus Südeuropa bis Zentralasien.

Er zerbricht den Schneidezahn in winzige Stücke

Nur selten zieht sich er dafür selbst noch den blau-weißen Schutzanzug mit Kapuze an, den Mundschutz und die Latexhandschuhe, um das Reinlabor zu betreten. Laborassistenten wie Henrik Hansen reinigen dort menschliche Überreste, zum Beispiel einen Schneidezahn aus der Bronzezeit. Anschließend zerbricht er das sandfarbene Stück mit einer Metallzange in winzige Stücke, um daraus in einem aufwendigen Prozess alte DNA zu gewinnen.

Genetisches Material des Anzick-Kindes sind im Labor jedoch nicht mehr zu finden. Im Juni 2014, vier Wochen nach Publikation der wissenschaftlichen Studie, wurden sämtliche Überreste des Skeletts begraben, dafür kamen Indianerstämme aus dem ganzen Land. Skye Gilham, die Schwarzfuß-Indianerin, zeigt auf ein Foto davon.

Eines werden sie alle niemals vergessen, sagt Gilham, wiederholt Shane, bekräftigt Willerslev: Zu Beginn der Zeremonie regnete es in Strömen. Doch dann begann der Medizinmann des Crow-Stamms zu singen, um den Geist des Anzick-Kindes zu befreien. Kaum hatte er damit angefangen, kam die Sonne heraus. "Das war ein besonderer Moment", sagt Willerslev, den die Crow-Indianer übrigens ChiitdeeXia'ssee nennen, was so viel heißt wie "berühmter Kundschafter". Ohne Zweifel hat er bereits viele Fährten in die Vergangenheit erkundet.

© SZ vom 04.01.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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