Süddeutsche Zeitung

Vor 50 Jahren:Der verheimlichte Super-Gau

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Am 29. September 1957 geschah östlich des Urals das schlimmste Atomunglück aller Zeiten. Die Welt erfuhr davon allerdings erst am Ende des Kalten Krieges.

Wolfgang Roth

Wer nach einem Fanal für die Risiken der zivil genutzten Kernenergie fragt, bekommt in der ganzen Welt dieselbe Antwort: natürlich Tschernobyl. Für die Apokalypse, in die der militärische Einsatz mündet, stehen Hiroshima und Nagasaki.

Von dort aber führt ein direkter Weg zu dem Fanal, das die nukleare Kriegsproduktion in Friedenszeiten auslösen kann.

Es entzündete sich vor genau 50 Jahren östlich des Urals, in der weltweit größten Anlage ihrer Art, die genauso wenig auf einer Landkarte verzeichnet war wie die nahe Stadt Osjorsk.

In der Plutoniumfabrik Majak, wo der Stoff für die erste sowjetische Atombombe ausgebrütet wurde, explodierte am 29. September 1957 ein Tank mit 80 Tonnen hochradioaktiver Flüssigkeit, hauptsächlich langlebiges Caesium-137 und Strontium-90.

Majak, das bedeutet "Leuchtfeuer". Es war aber kein Rauch, der das Land in der Folge überzog, sondern eine radioaktive Wolke, die der Wind nach Nordosten trieb, etwa 300 Kilometer lang und zehn bis 40Kilometer breit.

Die Strahlung, die sich damals ausbreitete, entspricht mindestens dem radioaktiven Potential, das der geborstene Reaktorblock von Tschernobyl drei Jahrzehnte später in die Welt setzte, nur dass sich die Spur am Ural seinerzeit nicht bis in den Westen zog.

Umso härter bekam es die Bevölkerung in der Umgebung von Majak zu spüren: An die 15.000 Menschen wurden ausgesiedelt, die evakuierten Orte in einer 25-Kilometer-Zone zerstört, um die heimliche Rückkehr unmöglich zu machen. Die Produktion im Werk lief derweil ununterbrochen weiter.

Auch die USA schwiegen

Die Katastrophe von Kyschtym, benannt schließlich nach einer Ortschaft am Rande des riesigen Atomkomplexes, sie war eine stille Katastrophe. Dass eine Anlage dieser Größe den Aufklärungsflugzeugen der USA unbekannt war, kann ausgeschlossen werden; dass den Geheimdiensten des Westens die Umsiedlungen und anderen Aktivitäten nach der Explosion verborgen blieben, ist äußerst unwahrscheinlich.

Im Kalten Krieg bestand aber auf keiner Seite das geringste Interesse, die Gefahren der Plutoniumproduktion für Atombomben in die Öffentlichkeit zu bringen. Schließlich verfrachtete auch der Nuklearkomplex in Hanford (Bundesstaat Washington), wo das militärische Manhattan-Projekt seinen Anfang genommen hatte, über die Jahre erhebliche Mengen radioaktiver Stoffe in die Umgebung, die flüssigen Abfälle liefen ständig in den Columbia River.

Das erklärt auch die Zurückhaltung und das Misstrauen, das dem sowjetischen Biochemiker und Dissidenten Schores Medwedjew entgegenschlug, als er, ausgebürgert und im Londoner Exil lebend, 1976 im Magazin New Scientist von dem gewaltigen Unfall berichtete. Weil er als Ursache fälschlicherweise eine nukleare Kettenreaktion und nicht eine chemische Explosion in dem Tank ausmachte, zweifelten westliche Wissenschaftler die ganze Geschichte an.

Fast schon reflexhaft wiederholten sich solche Reaktionen, als Medwedjew drei Jahre später ein Buch veröffentlichte ("Nuclear Disaster in the Urals"). Erst im Jahr 1989 wurde die Kyschtym-Katastrophe zum Thema im Obersten Sowjet und schließlich der Internationalen Atomenergie-Organisation in Wien gemeldet.

Mittlerweile ist relativ gut bekannt, mit welchen Kraftakten und mit welcher Rücksichtslosigkeit gegenüber der Bevölkerung die Sowjetunion zu ihrer ersten Atombombe kam, die am 29. August 1949 im benachbarten Kasachstan gezündet wurde. Und mit Glasnost und Perestrojka erfuhr die Welt auch, mit welch gewaltigen Opfern das Plutonium in der Folge erzeugt wurde, das die atomare Waffengleichheit mit dem Gegner USA aufrechterhalten sollte.

Majak ist bis heute eine Katastrophe, aber am schlimmsten war es bis in die sechziger Jahre hinein. In dem Plutoniumwerk war die Belegschaft, darunter sehr viele Frauen, ständig einer Strahlung ausgesetzt, die weit über das hinausging, was irgendwo in der Welt als Grenzwert galt.

Die Mär vom Chemie-Unfall

Bis 1952 landeten die vom Plutonium abgeschiedenen Stoffe im Fluss Techa, aus dem etwa 30.000 Menschen ihr Wasser bezogen, mit dem sie das Vieh tränkten und die Felder bewässerten. Auch hier wurden Menschen umgesiedelt, das Militär riegelte Flussufer ab - wegen eines Unfalls in einer chemischen Fabrik, wie es hieß. Sogar manche Angehörigen der Arbeiter in Majak, die mit ihren Familien in der nahen Stadt Osjorsk wohnten, glaubten lange die offizielle Version, es handle sich um ein Werk zur Erzeugung von Düngemitteln.

Danach landeten die flüssigen Abfälle in einem künstlichen Wasserloch unweit der Fabrik. Der Karatschai-See ist ein unheimlicher und höchst gefährlicher Ort, an dem man sich nicht lange aufhalten sollte. So klein er auch ist, er hat es doch in sich; das radioaktive Inventar übersteigt bei weitem alles, was je durch Uran-Abbau, kommerzielle Reaktoren, Atommüll-Verklappung im Meer und die Katastrophe von Tschernobyl freigesetzt wurde.

Mit Hilfe von Betonblöcken und Lehm soll die Strahlung hier gebunden bleiben; was Richtung Grundwasser fließt, soll in Drainagen aufgefangen werden. Das alles aus gutem Grund: 1967 trocknete der See aus und der Wind trieb eine gewaltige kontaminierte Staubwolke über das Land.

Die Bewohner von Osjorsk, die Arbeiter von Majak, die nun überwiegend in der zivilen Isotopenproduktion für den Weltmarkt arbeiten - sie leben mit dem Risiko, das sie im Körper tragen. Für Wissenschaftler, die Erkenntnisse über die medizinischen Folgen der Radioaktivität gewinnen wollen, ist dieser Brennpunkt zwischen der Bezirkshauptstadt Tscheljabinsk und Jekaterinburg von unvergleichbarem Wert.

Fast alle Risiko-Abschätzungen basieren bis heute auf den Erfahrungen, die durch die Untersuchung der Überlebenden von Hiroshima und Nagasaki gewonnen wurden und werden. Hier am Ural-Gebirge aber sind Daten zu gewinnen, die Aufschluss über Krankheiten durch niedrigere Strahlendosen über längere Zeiträume geben. Die Europäische Union unterstützt mit 6,8 Millionen Euro ein Untersuchungsprojekt, das vom GSF-Forschungszentrum für Umwelt und Gesundheit in Neuherberg bei München koordiniert wird.

Autopsien mit Geigerzähler

Die Dosis, der die Majak-Mitarbeiter bis heute ausgesetzt sind, wird rekonstruiert durch Messung des Plutonium-Gehalts im Urin. Bei Autopsien wird der Anteil in verschiedenen Organen ermittelt. Nachdem früher schon eine deutliche Erhöhung der Krebsrate, vor allem von Lungenkrebs, festgestellt worden war, zeigte sich für die von 1949 bis 1953 Beschäftigten nun auch, dass sie signifikant häufiger unter Erkrankungen der Hirn- und Herzkranzgefäße leiden.

Dies betrifft jene Menschen, die unter den brutalen Bedingungen der ersten Nachkriegszeit in der Atombombenproduktion beschäftigt waren. Untersuchungen der Jüngeren werden möglicherweise auch Erkenntnisse erbringen, die für die Bewertung des weit niedrigeren Strahlungsrisikos in Deutschland von Bedeutung sind.

Im Unterschied dazu ist das Leid, das die Kyschtym-Katastrophe über die Bevölkerung gebracht hat, zwar offenkundig, aber nicht messbar. Die Menschen, die umgesiedelt wurden, sind über das Land verstreut, die Strahlendosis, der sie ausgesetzt wurden, ist kaum mehr exakt zu ermitteln. Um sie bleibt es so still, wie es lange still war um die Explosion eines Tanks irgendwo hinter dem Ural.

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Quelle:
SZ vom 29.9.2007
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