Kannibalismus im Tierreich:Diese Vögel verfüttern ihren Nachwuchs

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Wiedehopfe nisten gerne in Baumhöhlen. (Foto: Thomas Krumenacker)

Wiedehopfe kümmern sich eigentlich fürsorglich um ihre Brut – doch es gibt eine grausame Ausnahme.

Von Thomas Krumenacker

Vögel haben manche Tricks im Arsenal, um Feinde abzuwehren und ihrem Nachwuchs einen erfolgreichen Start ins Vogelleben zu sichern. Besonders ideenreich ist der Wiedehopf. Kommt ein Marder einer Baumhöhle zu nahe, in der sich der bunte Vogel mit der kecken Haube zur Brut niedergelassen hat, empfängt ihn ein ätzender Kotstrahl aus dem Inneren. Gefährliche Bakterien wehren Wiedehopfe über ein selbstproduziertes Antibiotikum ab, mit dem das Weibchen ihre Eier imprägniert. Nun sind spanische Wissenschaftler einer weiteren Besonderheit der Vogelart auf die Spur gekommen. Man könnte auch sagen, einem ziemlich dunklen Geheimnis.

Wiedehopfe sind demnach zwar fürsorgliche Eltern, aber das gilt nicht für das Nesthäkchen aus dem jüngsten Ei. Biologen der Universität Granada fanden heraus, dass Wiedehopf-Weibchen das letzte Ei ihrer fünf bis sieben Eier umfassenden Brut oft nur legen, um das daraus schlüpfende Küken an seine Geschwister zu verfüttern. „Die Nesthäkchen sind zum Sterben verurteilt“, sagt Studienleiterin María Dolores Barón.

Die Doktorandin und ihre Kollegen kamen dem Phänomen des systematischen Geschwister-Kannibalismus bei Untersuchungen zahlreicher Wiedehopf-Bruten in Südspanien auf die Spur. Sie vermuten dahinter eine evolutionäre Anpassung an das sehr unterschiedliche Nahrungsangebot im Verlauf der Brutsaison. Im April, wenn die Vögel ihre Eier legen, ist die Landschaft im Mittelmeerraum noch reich an Insekten. Doch mit zunehmender Trockenheit im späteren Frühjahr wird das Nahrungsangebot knapp – gerade dann, wenn die Jungvögel es am dringendsten benötigen. Die Wiedehopfe nutzen der im Fachjournal The American Naturalist veröffentlichten Untersuchung zufolge das gute Insektenangebot zu Beginn der Brutzeit, um mit der aus ihm gewonnenen Energie ein zusätzliches Ei als Nahrungsvorrat für später zu produzieren. „Speisekammer-Hypothese“ nennt die Biologie diesen Erklärungsansatz. So wie andere Tiere im Herbst Vorräte für den Winter anlegen, investieren Wiedehopfe offenbar den Überfluss des Frühjahrs in die „Produktion“ eines Kükens zum späteren Verfüttern.

Die Mütter kümmerten sich selbst dann nicht um das jüngste Küken, wenn genug Nahrung vorhanden war

Um zu überprüfen, ob wirklich ein Nahrungsboom während der Legezeit ausschlaggebend für das Produzieren eines Extra-Eies ist, versorgten die Forscher einen Teil der von ihnen beobachteten Bruten mit großzügigen Extraportionen ihrer Lieblingsnahrung Heuschrecken, während andere kein Zusatzfutter bekamen. Wie erwartet legten Weibchen mit Nahrungsüberfluss im Durchschnitt ein Ei mehr als die Artgenossinnen ohne Extra-Mahlzeiten. Dem jüngsten Wiedehopf-Küken nutzte allerdings selbst ein gutes Nahrungsangebot nach dem Schlüpfen nichts mehr. „Die Mütter fütterten die zuletzt geschlüpften Nestlinge selbst dann nicht und ließen es verhungern, wenn zusätzliches Futter im Nest war und die anderen Nestlinge satt waren“, berichtet Barón.

Geschwistertötungen kommen natürlicherweise auch bei anderen Vogelarten vor. Bei einigen Greifvögeln wie Bartgeier oder Schreiadler tötet das Erstgeborene fast immer sein kleineres Geschwister wenige Tage nach der Geburt. Dieses Phänomen wird als Kainismus bezeichnet, in Anlehnung an den biblischen Brudermord von Kain an Abel. Kainismus tritt aber oft nur bei Arten auf, die pro Brutsaison nur ein Junges großziehen – und er hat eine andere biologische Funktion als die Nahrungsversorgung des überlebenden Kükens. Die meisten Wissenschaftler erklären diese Fälle mit der Reserve-Hypothese des zweiten Eis: Sollte ein Ei unfruchtbar sein oder beschädigt werden, bekommt das Küken im zweiten Ei eine Chance zu leben – und die Reproduktion eines Jahres geht nicht verloren.

Ein Verhalten, das zur „Speisekammer-Theorie“ passt, wurde bisher nur bei einigen Insekten, Amphibien und Fischen nachgewiesen. Die Wiedehopf-Studie liefert nach Aussage ihrer Autorinnen und Autoren den ersten Beweis für diese „Vorratshaltung“ des eigenen Nachwuchses bei einer hoch entwickelten Tierart mit großer elterlicher Fürsorge. Wissenschaftlerin Barón hält es aber für möglich, dass dieses Phänomen bei Vögeln weiter verbreitet ist als angenommen. Für eine ganze Reihe von Arten seien die Voraussetzungen dafür gegeben, zum Beispiel, dass die Jungen in einem Nest in größerem Abstand zueinander schlüpfen. „Das führt zu einer extremen Geschwister-Hierarchie und der Möglichkeit, dass die älteren Geschwister das kleinste schlucken können.“

Mit ihrem nach menschlichem Ermessen befremdlichen Verhalten haben es sich die Wiedehopfe übrigens nicht mit Barón verscherzt. Sie wolle die Art weiter erforschen, sagt sie. „Die Arbeit mit Wiedehopfen erweist sich als eine faszinierende Entdeckungsreise in die Evolution.“

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