Artensterben:So schlecht ging es den Vögeln noch nie

Artensterben: Auch der Nördliche Raubwürger (Lanius excubitor) ist in Deutschland akut vom Aussterben bedroht, nebst 32 anderen Vogelarten.

Auch der Nördliche Raubwürger (Lanius excubitor) ist in Deutschland akut vom Aussterben bedroht, nebst 32 anderen Vogelarten.

(Foto: imago/imagebroker)

Jeder achten Art weltweit droht das Aussterben, zeigt ein neuer Bericht, vor allem durch die Intensivierung der Landwirtschaft. Letzte Hoffnung vieler Experten ist das globale Naturschutzabkommen, das im Dezember in Montreal verhandelt werden soll.

Von Thomas Krumenacker

In diesen Tagen tauchen sie wieder in großen Schwärmen am Himmel auf: Gänse, Kraniche und Stare machen sich in eindrucksvollen Trupps auf den Weg in ihre südlichen Überwinterungsgebiete. Doch der Eindruck der Vogelmassen trügt: Überall auf der Erde gehen die Vogelbestände so stark zurück wie nie zuvor. Das zeigen neue Daten des Vogelschutz-Dachverbandes Birdlife International und der Weltnaturschutzunion (IUCN). Danach verzeichnen fast die Hälfte der rund 11 000 Vogelarten auf der Erde weiter starke Verluste. Jede achte Vogelart ist mittlerweile vom Aussterben bedroht. Nur sechs Prozent der Arten weisen steigende Bestände auf.

"Unser neuester Bericht über den Zustand der Vögel der Welt zeichnet das bisher besorgniserregendste Bild von der Zukunft der Vögel und damit des gesamten Lebens auf der Erde", heißt es in dem am Mittwoch veröffentlichten Bericht. Nie zuvor in der mehr als 100-jährigen Erforschung der Vogelpopulationen sei die Lage so dramatisch gewesen. "Die Lage der Vögel zeigt, dass wir uns mitten in einer globalen Aussterbekrise befinden", konstatiert Birdlife-Chefwissenschaftler Stuart Butchart.

Für die Rote Liste der Weltnaturschutzunion bewertet Birdlife den Zustand der Vogelpopulationen. Der anhaltende Negativtrend, den die Experten feststellen, betrifft alle Regionen der Erde. In Japan etwa brachen die Populationen von Vögeln aller Lebensräume in den letzten 150 Jahren um mehr als 90 Prozent ein. In Afrika bedroht die Aussterbekrise unter Geiern und anderen Greifvögeln immer stärker auch die Gesundheit der Menschen, weil die aasvertilgenden Vögel auch Infektionskrankheiten in Schach halten. In Costa Rica verstummten seit der Jahrtausendwende mehr als 60 Prozent der Vögel in den tropischen Wäldern und in Australien schrumpften seit der Jahrtausendwende die Bestände bei fast der Hälfte der häufigen Seevogelarten.

Vögel gelten als gute Indikatoren für die gesamte Biodiversität

In den USA und Kanada leben dem Report zufolge heute rund drei Milliarden Vögel weniger als vor 50 Jahren. Das entspricht dem Verlust fast jedes dritten Vogels. Wie das Insektensterben sei der Vogelschwund Zeichen einer globalen Ökologiekrise, warnen US-Wissenschaftler.

Auch Europa bildet keine Ausnahme. Hier sind die Bestände der einst häufigen Agrarland-Vogelarten wie Feldlerche oder Braunkehlchen seit 1980 um fast 60 Prozent eingebrochen. Die Staaten der EU haben innerhalb der vergangenen vier Jahrzehnte 600 Millionen Vögel verloren, das entspricht rein rechnerisch einem Verlust von 40 000 Vögeln pro Tag. Auch in Deutschland ist der Abwärtstrend eindeutig. Mit dem an Meeresküsten lebenden Steinwälzer und dem in Felsen brütenden Würgfalken sind im vergangenen Jahr sogar erneut zwei Arten als Brutvögel in Deutschland für ausgestorben erklärt worden. Ihnen könnten schon bald weitere folgen: 33 Vogelarten rangieren in der deutschen Roten Liste als "vom Aussterben bedroht".

Der Bericht analysiert auch die Ursachen für den globalen Sinkflug der Vögel. Danach ist die Ausdehnung und Intensivierung der Landwirtschaft die größte Bedrohung für die Vögel der Welt. Zwei Drittel aller bedrohten Arten litten unter dem Einsatz von Agrochemikalien, der Umwandlung von Grünland in Acker und dem Vordringen der Landnutzung in ihre Lebensräume. Die fortschreitende Abholzung von Wäldern mit einem Verlust von mehr als sieben Millionen Hektar Lebensraum pro Jahr und der Klimawandel werden als weitere Bedrohungsfaktoren ausgemacht.

Bei allen Hiobsbotschaften kann der Naturschutz im Kampf gegen das Aussterben auch Erfolge verbuchen. So konnten seit den 90er-Jahren mehrere Dutzend Vogelarten durch gezielte Schutzmaßnahmen vor dem Aussterben bewahrt werden. Und erst im vergangenen Jahr wurde ein Meeresgebiet im Nordatlantik von der Größe Frankreichs unter Schutz gestellt, nachdem Wissenschaftler entdeckt hatten, dass dort bis zu fünf Millionen Seevögel nach der Brutzeit überwintern.

Die alle vier Jahre herausgegebenen Berichte zur Lage der Vögel gelten als mit die wichtigsten Indikatoren für den Zustand der Natur weltweit. Denn Vögel sind die am besten erforschte und eine der repräsentativsten Gruppen unter allen Tier- und Pflanzenarten. Weil sie für ihr Überleben auf intakte Ökosysteme angewiesen sind und im Jahresverlauf über Kontinente hinweg an verschiedenen Orten leben, gelten sie in der Wissenschaft als ideale Barometer für den Zustand von Biodiversität und die planetare Gesundheit insgesamt. Der Bericht dürfte damit eine der wichtigsten fachlichen Grundlagen für die Beratungen zum neuen Weltnaturschutzabkommen sein, das im Dezember bei einem Gipfeltreffen der fast 200 Mitgliedsstaaten der UN-Konvention zur biologischen Vielfalt (CBD) im kanadischen Montreal verabschiedet werden soll.

"Montréal muss zum Paris für die Artenvielfalt werden"

Auch die Vogelforscher setzen große Hoffnungen auf das Montreal-Abkommen. Dort sollen unter anderem Beschränkungen für den Einsatz von Pestiziden festgeschrieben werden. Vor allem das im Entwurf für das Abkommen vorgesehene Ziel, künftig jeweils 30 Prozent der Land- und der Meeresfläche des Planeten unter einen wirksamen Schutz zu stellen, wird als Voraussetzung für eine Wende in der Artenkrise angesehen. Die 120 nationalen Birdlife-Mitgliedsorganisationen haben mehr als 13 000 besonders wichtige "Vogel- und Biodiversitätsgebiete" identifiziert, die das Gerüst für ein solches Schutzgebietssystem bilden könnten.

Dem Montreal-Abkommen wird für den weltweiten Schutz von Tieren, Pflanzen und Ökosystemen eine ähnliche Bedeutung zugemessen wie sie das Pariser Abkommen für den Klimaschutz hat. "Montréal muss zum Paris für die Artenvielfalt werden, wo die Regierungen das Artensterben endlich als das benennen, was es ist: eine Existenzfrage für die Menschheit", fordert auch Konstantin Kreiser, der für Naturschutzpolitik zuständige Fachgebietsleiter beim deutschen Birdlife-Partner Nabu. Er misst dem Engagement der Bundesregierung eine entscheidende Rolle dabei zu, die in der laufenden Schlussphase stockenden Verhandlungen zu retten. Bundeskanzler Olaf Scholz hatte vor wenigen Tagen ein größeres finanzielles Engagement für den globalen Naturschutz angekündigt. "Wenn der Kanzler ein echtes Zeichen von Verantwortung für die kommenden Generationen setzen will, dann sollte er im Dezember nach Kanada fahren, und nicht nach Katar", sagt Kreiser.

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