Süddeutsche Zeitung

Artenschwund:Europa verliert seine Vögel

Minus 600 Millionen in 40 Jahren: Lebensraumzerstörung, Nachstellungen und Intensivlandwirtschaft sorgen für einen beispiellosen Vogelschwund in der EU.

Von Thomas Krumenacker

In Europa spielt sich offenbar ein Vogelschwund von historischem Ausmaß ab. Der Untersuchung eines internationalen Wissenschaftlerteams zufolge verloren die EU-Staaten und Großbritannien in den vergangenen 40 Jahren fast jeden fünften Brutvogel. Damit leben heute etwa 600 Millionen Vögel weniger auf dem Gebiet der Europäischen Union als noch im Jahr 1980. Das entspricht rechnerisch einem Verlust von mehr als 40 000 Vögeln pro Tag.

Der massenhafte Vogelschwund geht der Untersuchung zufolge vor allem auf enorme Bestandseinbrüche bei sogenannten Allerweltsvögeln zurück, also Arten, die noch weit verbreitet und im Vergleich zu anderen immer noch relativ häufig sind. So hat sich die Zahl der Haussperlinge in Europa während der Lebensspanne eines 40-jährigen Menschen halbiert. Mit einem Verlust von knapp 250 Millionen Vögeln führt der Spatz die Liste der größten Verlierer an.

Die zweitgrößte Abnahme verzeichnet die auf Wiesen und Weiden lebende Schafstelze mit einem Bestandsverlust von knapp 100 Millionen Vögeln. Auch die weiteren Arten mit massenhaften Bestandseinbrüchen wie Star (minus 75 Millionen Einzelvögel), Feldlerche (minus 68 Millionen) oder Bluthänfling (minus 34 Millionen) verbindet, dass sie vor allem in der landwirtschaftlich genutzten Offenlandschaft leben, wo ihnen Pestizide und eine immer intensivere Landnutzung das Überleben schwer machen.

Zwar untersuchten die Wissenschaftler in dieser Studie nicht ausdrücklich die Ursachen für den Vogelschwund, die Aufstellung der größten Gewinner und Verlierer nach Lebensräumen zeigt aber, dass vor allem die Intensivlandwirtschaft eine Schlüsselrolle spielen dürfte. "Die Studienergebnisse zeigen auf bedrückende Weise, dass es bisher nicht gelungen ist, Vögeln in der Agrarlandschaft ein Überleben zu sichern", sagt auch Sven Trautmann vom Dachverband Deutscher Avifaunisten (DDA), der die Daten aus Deutschland für die Analyse beigesteuert hat. "Die Intensivlandwirtschaft zwingt unsere Vögel in die Knie."

Die Lage der Vogelarten, die auf Äckern, Wiesen und Weiden brüten und dazu noch über weite Strecken in ihre Winterquartiere ziehen, hat sich sogar noch stärker verschlechtert, als der erste Blick nahelegt. Denn von diesen Arten leben heute sogar fast eine Milliarde Vogel-Individuen weniger in der EU als vor 40 Jahren. Weil den Verlusten unter Feldsperling, Kiebitz, Uferschnepfe und Co. aber auch Vogelarten gegenüberstehen, die ihre Bestände deutlich steigern konnten, ergibt sich aus der Analyse eine Nettobilanz von minus 600 Millionen Vogel-Individuen über 40 Jahre.

Zu den zumindest zeitweisen Gewinnern gehören Vogelarten, die sich entweder an das Leben in der unmittelbaren Umgebung von Menschen gewöhnt und keine besonderen Ansprüche an ihren Lebensraum haben, oder solche Arten, die in Wäldern leben. Auch der Klimawandel könnte sich zumindest zeitweise mit milderen Wintern positiv ausgewirkt haben. Größte Gewinner sind Mönchsgrasmücken mit einem Populations-Plus von 55 Millionen Vögeln, gefolgt von Zilpzalp, Amsel und Zaunkönig, die ihre Bestände europaweit in den vergangenen Jahrzehnten jeweils um mehr als 25 Millionen Individuen erhöht haben.

Deutschland hat heute 16 Millionen Vögel weniger als vor 25 Jahren

Für ihre im Fachjournal Ecology and Evolution erschienene Studie werteten die Naturschutzbiologen vom RSPB Centre for Conservation Science, der tschechischen Ornithologenvereinigung und des Naturschutzdachverbands Birdlife International die Ergebnisse aus dem Brutvogelmonitoring aller Mitgliedstaaten sowie Daten aus den Jahren von 1980 bis 2017 aus, die alle EU-Mitgliedsländer regelmäßig an die Europäische Kommission melden müssen.

Auch der Abwärtstrend vieler Arten in Deutschland schlägt laut DDA auf die europaweiten Ergebnissen durch. So trage der Rückgang der Stare hierzulande fünf Prozent aller europäischen Verluste bei. Insgesamt schätzt Trautmann, dass Deutschland im vergangenen Vierteljahrhundert gut 16 Millionen Vögel verloren hat.

"Für viele Menschen ist Naturschutz gleichbedeutend mit der Rettung seltener Arten vor dem Aussterben, aber es ist ebenso wichtig, die dezimierten Populationen von eher häufigen Arten wiederherzustellen", sagt die Erstautorin der Studie, Fiona Burns, mit Blick auf die Bedeutung von Vögeln für das Funktionieren von Ökosystemen. "Der Verlust von Hunderten von Millionen Individuen dürfte sich auch auf den Nutzen auswirken, den wir Menschen aus der Natur ziehen, sei es die Schädlingsbekämpfung durch insektenfressende Vögel auf landwirtschaftlichen Flächen, durch Bestäubung und Samenverbreitung oder einfach nur durch die Freude, spektakuläre Vogelansammlungen wie Starenschwärme zu beobachten."

Bestände von Seeadlern und Wanderfalken haben sich erholt

Auch DDA-Geschäftsführer Christoph Sudfeldt hebt die Bedeutung der Vögel für das Funktionieren ganzer Ökosysteme hervor. "Je größer die Verluste sind, desto schwieriger wird es, das Netz des Lebens aufrechtzuerhalten", warnt er. "Wir wissen nicht, wann wir an Kipppunkten angelangt sind, bei denen die Schäden für Mensch und Natur irreversibel werden - aber wir wissen, dass wir uns ihnen bei Vögeln immer schneller nähern."

Forscherin Burns ist allerdings wichtig, der Analyse bei aller Dramatik auch positive Ergebnisse abzugewinnen. So ergab die Studie, dass es bei sieben Greifvogelarten deutlich aufwärts ging, weil es einen besseren Schutz vor Verfolgung gibt als noch in den 1980er-Jahren. Die Rettung dieser Arten wie Seeadler oder Wanderfalke zeige, dass Naturschutzvorgaben wie durch die europäische Vogelschutzrichtlinie auch funktionieren könnten. Auch scheine sich der Hauptteil des Vogelschwundes vor der Jahrtausendwende abgespielt zu haben und seitdem abzuschwächen. Hoffnung setzt sie auch in die bevorstehende Vertragsstaatenkonferenz der Konvention für Biologische Vielfalt (CBD).

Bei diesem Weltnaturgipfel - einer Art Schwesterkonferenz zum gerade beendeten Klimagipfel - wollen die fast 200 Mitgliedstaaten im Mai im chinesischen Kunming Ziele für den Schutz und die nachhaltigere Nutzung der globalen Ökosysteme beschließen. Erklärtes Ziel der UN-Konvention ist es, das Artensterben bis 2030 zu stoppen und bis zur Jahrhundertmitte zu einem harmonischen Miteinander von Mensch und Natur auf dem Planeten zu kommen. Die Europäische Union ist bei den gerade laufenden Verhandlungen für das neue Weltbiodiversitätsabkommen Teil einer "Allianz ambitionierter Staaten". Sie tritt dafür ein, künftig jeweils 30 Prozent der Land- und Meeresflächen unter einen wirksamen Schutz zu stellen, um den Artenschwund zu stoppen. Gleiches soll in Europa geschehen. "Unsere Studie ist ein Weckruf und zeigt den Ernst der Lage", sagt Burns. "Wir brauchen ein starkes Abkommen - alle Augen richten sich auf Kunming."

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